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Grünen-Chef Cem Özdemir im Interview: "Mit der AfD reden wir nicht"


"Wer Klimaleugner will, hat bei der FDP ein Angebot"

Von Florian Harms, Daniel Fersch

Aktualisiert am 23.09.2017Lesedauer: 8 Min.
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Der grüne Spitzenkandidat übte im Interview deutliche Kritik an der Türkei-Politik der Bundesregierung.Vergrößern des Bildes
Der grüne Spitzenkandidat übte im Interview deutliche Kritik an der Türkei-Politik der Bundesregierung. (Quelle: Archivbild/Michael Kappeler/dpa-bilder)

Kurz vor der Bundestagswahl kritisiert Cem Özdemir die FDP von Christian Lindner scharf. Die Liberalen seien eine "Dagegen-Partei: Gegen den Mindestlohn und gegen Klimaschutz", so der Grünen-Chef. Im t-online.de-Interview fordert er zudem eine Reisewarnung für die Türkei.

t-online.de: Herr Özdemir, die Grünen wollen drittstärkste Kraft im Bundestag werden. In den Umfragen liegt aber die AfD vorne. Was läuft falsch in Ihrem Wahlkampf?

Cem Özdemir: Die AfD kann offensichtlich viele Nichtwähler mobilisieren. Gleichzeitig wissen wir aber auch, dass es viele gibt, die noch unentschlossen sind. Knapp die Hälfte der Deutschen wünscht sich laut einer Umfrage die Grünen in der Regierung. Jetzt geht es darum: Wem Umwelt und Gerechtigkeit am Herzen liegt, wer einen Rechtsruck verhindern will, wer will, dass es nicht weitere vier Jahre Stillstand gibt mit der Großen Koalition oder gar Rückschritt mit CDU/CSU und FDP, muss Bündnis 90/Die Grünen wählen.

Offenbar ist es Ihnen und Ihrer Partei bisher nicht gut genug gelungen, das den Bürgern zu erklären.

Das Rennen um Platz eins scheint nach dem Kanzlerduell vorentschieden zu sein. Bis dahin spielten Digitalisierung, Bildung, aber vor allem der Klimaschutz - die entscheidende Frage für die Menschheit! - keine Rolle. Diese Frage kam erst langsam auf die Tagesordnung, und sie spitzt sich jetzt zu, weil unsere Antworten und die Antworten der FDP sich sehr deutlich unterscheiden. Wir wollen, dass es saubere Luft gibt - durch Hightech, indem etwa der Diesel nachgerüstet wird. Finanziert von der Autoindustrie, die das Problem verursacht hat. Christian Lindner dagegen will die Grenzwerte aufweichen. Für ihn sollen sich die Kinder, die die Luft einatmen, den Autos anpassen und nicht umgekehrt. Wir sagen angesichts der Jahrhundert-Unwetterkatastrophen in den USA: Wir müssen endlich was tun gegen den Klimawandel, indem wir Uralt-Kohlekraftwerke aus den 1960er Jahren mit Wirkungsgraden von nur 30 Prozent abschalten.

So wie es im Augenblick aussieht, hätten die Grünen aber, wenn überhaupt, die Chance, mit der Union und der FDP zu regieren. Sehen Sie bei einer Jamaika-Koalition überhaupt Chancen Ihre Positionen durchzubringen?

Jetzt warten wir einmal ab. Ich kenne das Wahlergebnis noch nicht. Ich bin da ganz demütig und kämpfe bis Sonntag um jede Stimme! Am Ende wird dann geschaut: Für was reicht's arithmetisch, aber mindestens genauso wichtig, für was reicht's inhaltlich? Dabei ist klar: mit der AfD reden wir nicht. Weil sie das Menschenbild unseres großartigen Grundgesetzes nicht teilt. Weil ihre Loyalität offensichtlich zu Wladimir Putin höher ist als die Loyalität zu den Werten der Bundesrepublik Deutschland. Für alle anderen Parteien gilt: Wir reden, aber wir reden nicht über alles.

Maßstab sind unsere zehn Kernvorhaben: Uns gibt's nur mit einer klaren Vorfahrt für Klimaschutz, mit mehr sozialer Sicherheit und besserer Bildung für alle in unserem Land und nur mit einer pro-europäischen Politik. Ich kann die anti-europäischen Ressentiments nicht mehr hören - weder von Linksaußen noch von Rechtsaußen, noch von Christian Lindners FDP. Seine Reaktion auf Macron in Frankreich lässt mich erschaudern. Jeder, der bei Trost ist, muss doch verstehen, dass wir angesichts dessen, wie knapp es in Frankreich war, kein Interesse daran haben können, dass Macron scheitert und dann Marine Le Pen kommt. Dann ist Europa am Ende.

Sie sind also dafür, alles mitzumachen, was Macron vorschlägt?

Nein, darum geht's nicht. Macron ist wahrscheinlich der größte Reformer des Nachkriegs-Frankreichs, der macht gerade eine Agenda 2010. Aber auch wir, die wir die Agenda 2010 gemacht haben – das war ja meine Partei – mussten damals die Stabilitätskriterien von Maastricht reißen. Wir hätten es nicht geschafft, die größte Arbeitsmarktreform nach dem Krieg umzusetzen und gleichzeitig die Kriterien einzuhalten. Warum verlangen wir von Frankreich etwas, das wir in Deutschland nicht geschafft haben?

Warum eigentlich permanent diese scharfen Attacken auf die FDP? Weil sie ein ähnliches Wählermilieu anspricht wie die Grünen?

Weil sie einen völlig falschen Kurs im Bund fahren will. Für Deutschland ist Europa von unschätzbarem Wert. Nur ein vereintes Europa garantiert uns dauerhaften Frieden. Wer Deutschland schaden möchte, spricht schlecht über Europa. Und wer etwas in Europa erreichen möchte, setzt auf Partnerschaft. Die braucht verbindliche Regeln: Wer sich europäisch verhält, kann auch mit Solidarität der anderen rechnen. Wer es nicht macht, eben nicht. Da darf man nicht selektiv sein. Das gilt zum Beispiel auch für Ungarn. Es kann nicht sein, dass Herr Orban sich gerne an den Töpfen in Brüssel bedient, aber wenn es darum geht, einen symbolischen Beitrag bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu leisten, tut er so, als ob er damit nichts zu tun hätte. Das geht so nicht.

Noch mal: Was stört Sie an der FDP? In Schleswig-Holstein und Rheinland-Pfalz koalieren Sie doch mit ihr.

Mit dieser FDP habe ich keine Probleme, da macht Grün den Unterschied. Aber ich rede von Christian Lindners FDP in Nordrhein-Westfalen: Das ist die alte FDP in moderner Verpackung. Hinter der Fassade der Digitalisierung stecken knallharte Konzerninteressen. Lindners FDP ist eine Dagegen-Partei: Gegen den Mindestlohn, gegen die Mietpreisbremse, gegen Solidarität in Europa und gegen Klimaschutz. Mit Klimaskeptikern kommen wir nicht zusammen. Ich diskutiere nicht über Naturgesetze.

Christian Lindner leugnet den Klimawandel ja nicht. Er setzt aber andere Schwerpunkte in seinem Programm.

Ich bitte Sie! Er lässt Klimaskeptiker gewähren. Er hat auf Platz zehn seiner Landesliste in Nordrhein-Westfalen einen Herrn namens Frank Schäffler, der sagt: Erstens gibt es keinen Klimawandel. Zweitens: Wenn es ihn doch gibt, freue ich mich drauf, und drittens ist er gut für den Wein!

Aber der steht auf Platz zehn einer Landesliste. Lindner führt die Bundespartei.

Und der steht eine Generalsekretärin vor, die twittert, dass die Jahrhundertstürme in der Karibik nichts mit dem Klimawandel zu tun hätten und von "Fake News" spricht. Wer Klimaleugner in der Regierung haben möchte, hat bei der FDP offensichtlich ein Angebot.

Es ist nicht erwiesen ist, dass es aufgrund des Klimawandels mehr Hurrikane gibt.

Aber die Heftigkeit dieser Stürme hat damit zu tun. Das sagt so ziemlich jeder Wissenschaftler in der Welt. Wir müssen aufhören, das zu ignorieren.

Sollten Sie die Chance bekommen, nach der Wahl in der Bundesregierung für den Klimawandel kämpfen zu können, was wären die ersten drei Maßnahmen?

Erstens: Einstieg in den Kohleausstieg, angefangen mit dem Abschalten der 20 schmutzigsten Kraftwerke. Deutschland hat die Menge an Strom, die es in den letzten fünf Jahren exportiert hat, verzehnfacht. Windräder werden bei uns angehalten, weil der schmutzige Kohlestrom die Netze verstopft. Wie krank ist dieses System denn? Schmutzigen Kohlestrom subventionieren wir, anschließend müssen wir dafür sorgen, dass das Grubenwasser abgepumpt wird, das sind Ewigkeitskosten. Wenn man das einmal mit der Energiewende gegenrechnet, deren Ausbau die Regierung gerade abbremst, dann würde jeder Unternehmer sagen: Ihr habt einen an der Klatsche.

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Zweitens brauchen wir eine echte Nachrüstung für den Diesel, nicht nur ein paar Mausklicks: Wirkungsvoll, überprüfbar, finanziert von der Automobilindustrie. Gleichzeitig brauchen wir einen Einstieg in die emissionsfreie Mobilität von Morgen. Und wir brauchen massive Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr. Die eine Milliarde, die Frau Merkel beim letzten Diesel-Gipfel den Kommunen einmalig versprochen hat, muss künftig jedes Jahr vom Bund an die Kommunen gegeben werden, damit die Städte Planungssicherheit haben und sich konsequent auf den Weg emissionsfreier Mobilität machen können.

Der dritte Punkt: Wir brauchen eine Agrarwende. Nicht wer besonders viele Tiere und Fläche hat, bekommt öffentliches Geld, sondern wer die Tiere artgerecht hält, wer den Tierschutz berücksichtigt, die Natur schützt und öffentliche Leistungen erbringt.

Themenwechsel: Lassen Sie uns über die Türkei reden. Ist der gegenwärtige Kurs der Bundesregierung im Umgang mit dem immer autoritärer werdenden Erdogan in Ihren Augen richtig?

Es wäre eine gute Idee, wenn die Bundesregierung einen Kurs oder eine Strategie in der Türkei-Politik hätte. Ich vermag keinen zu erkennen. Im Jahr 2005, als Frau Merkel Kanzlerin wurde, war die Türkei noch auf dem richtigen Weg: Sie diskutierte die kurdische Frage und war sogar bereit, über den armenischen Völkermord zu sprechen. Ich war damals selbst auf einer Konferenz in Istanbul, auf der über den Völkermord an den Armeniern debattiert wurde. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Damals sprach Frau Merkel von einer privilegierten Partnerschaft der Türkei mit der EU und lehnte eine Mitgliedschaft ab.

Deutschland hat in Ihren Augen also eine Mitschuld, dass sich die Türkei autoritär entwickelt hat?

Nein, aber als die Türkei auf dem falschen Weg war und sich immer stärker von diesen Reformen verabschiedet hat, sprach Frau Merkel plötzlich von einer EU-Mitgliedschaft. Diese Logik verstehe ich nicht.

Wenn ein Land auf dem richtigen Kurs ist, zeigt man ihm die kalte Schulter. Und wenn es alles falsch macht, ist Frau Merkel bereit, über die Erweiterung der Zollunion oder neue Beitrittskapitel zu reden. Die Strategie scheint zu lauten: Wenn ich nett zu dir bin, bist du nett zu mir. Das mag unter Demokraten funktionieren, aber mit autoritären Herrschern geht diese Strategie völlig in die Hose.

Merkels Bundesregierung ist wegen des Flüchtlings-Abkommens auf Erdogan angewiesen.

Eine deutsche Bundeskanzlerin darf sich nicht von einem Autokraten abhängig machen. Ich finde, dass die Türkei Europa mindestens so braucht, wie wir die Türkei zu brauchen glauben. Die Türkei ist in höchstem Maße abhängig von der EU - bei den Wirtschaftsbeziehungen, beim Tourismus. Dass die Bundesregierung jetzt über die Mitgliedschaftsfrage diskutiert, ist so ziemlich der dümmste Beitrag zum Thema, den man sich vorstellen kann.

Jeder weiß doch: Mit Erdogan gibt es keine Mitgliedschaft - nicht den Hauch einer Chance. Dann soll er doch Nein sagen und nicht wir.

Aber diese permanente Konfrontation führt doch zu nichts. Müsste die EU der Türkei nicht zumindest eine Chance für einen Beitritt in ferner Zukunft offenhalten?

Genau: der Türkei! Ohne Erdogan. Die Beitrittsverhandlungen liegen auf Eis im Kühlregal ganz hinten, und da würde ich sie auch lassen. Frau Merkel und Herr Schulz holen sie da raus und diskutieren darüber, anstatt Maßnahmen zu ergreifen, die Herrn Erdogan treffen. Wir sollten deutlich machen, dass sich unsere Kritik nicht gegen die Türkei und die Menschen dort richtet, sondern gegen Erdogans Politik. Dagegen, dass er deutsche Geiseln nimmt, Journalisten wie Deniz Yücel und viele andere.

Danach würde ich auch die Maßnahmen ausrichten: Die Hermes-Bürgschaften für deutsche Unternehmen, die in der Türkei tätig sind, nicht nur wie jetzt beschlossen deckeln, sondern aussetzen.

Sie fordern eine Reisewarnung für Deutsche, die in die Türkei reisen wollen?

Wer kann denn momentan sagen, dass eine Reise in die Türkei sicher ist? Wer kann garantieren, dass den Leuten nichts zustößt? Solange die Türkei nicht bereit ist, die deutschen Geiseln freizulassen, solange sie nicht davon absieht, weitere Geiseln zu nehmen und versucht, den Preis immer weiter in die Höhe zu treiben, solange sollte es eine Reisewarnung geben. Dann kann jeder, dem eine Reise zu unsicher erscheint, von seinen Reiseplänen kostenfrei zurücktreten. Erdogan hat sich leider dafür entschieden, die Türkei in ein offenes Gefängnis zu verwandeln. Zugleich lässt er in Deutschland eine Parallelstruktur aufbauen und einen Spitzelapparat.

Nehmen Sie das persönlich wahr?

Zu mir kommen türkischstämmige Mitbürger und erzählen, dass ihnen gedroht wird: "Wir verfolgen dich. Wir wissen, was du machst. Wir wissen, wo du wohnst. Wir kennen deine Familie, wir kennen deine Verwandten in der Türkei. Nimm dich in Acht und glaub' bloß nicht, dass Deutschland dich beschützen kann!" Das wird in Deutschland türkischstämmigen Bürgern gesagt. Geht's noch? Was macht die Bundesregierung dagegen?

Welche türkischen Organisationen prangern Sie konkret an?

Die Vorfeldorganisation von Herrn Erdogan, die "Union Europäisch-Türkischer Demokraten" (UETD), die Rockerorganisation "Osmanen Germania", und türkische Konsulate: Alle, die in irgendeiner Weise in einem Abhängigkeitsverhältnis zur Türkei und zu Erdogan stehen, werden gerade benutzt, um eine Parallelstruktur in Deutschland zu errichten. Da muss es ein klares Stoppsignal geben. Ich traue der Großen Koalition nicht zu, dass sie das kann. Wir können das, wir würden mit Erdogan in einer Sprache sprechen, die er versteht: Wir kürzen ihm die Finanzmittel. Gerne sage ich ihm das auch auf Türkisch.

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