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Gelbe Karte für Angela Merkel


Tagesanbruch
Gelbe Karte für Merkel

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 19.03.2021Lesedauer: 7 Min.
Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.
Angela Merkel während der Kabinettssitzung mit den Ministern Spahn und Seehofer.Vergrößern des Bildes
Angela Merkel während der Kabinettssitzung mit den Ministern Spahn und Seehofer. (Quelle: Tobias Schwarz/Reuters-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

hier ist Ihr Tagesanbruch, wenn Sie ihn abonnieren möchten, können Sie diesen Link nutzen. Dann bekommen Sie den Newsletter jeden Morgen um 6 Uhr kostenlos per E-Mail geschickt. Heute geht es um Rücksicht, um Lehren aus der Pandemie und um eine Gelbe Karte:

WAS WAR?

Wenn der mächtigste Mann der Welt spricht, sollte man zuhören. "Amerika ist wieder da", hat Joe Biden vor genau sechs Wochen in seiner außenpolitischen Auftaktrede gesagt. Jetzt lässt er den Worten Taten folgen: Amerika ist wieder da. Und wie. Das Weiße Haus hat sich von einer Pommesbude mit Twitter-Account zur Supermachtzentrale zurückverwandelt. Donald Trump brüskierte Verbündete mit wilden Drohungen, denen erratische Querschläger folgten. Der neue US-Präsident dagegen hat eine Strategie: Er will Amerika wieder als berechenbare Weltmacht etablieren, die rund um den Globus Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit verteidigt. Demokratien will er unterstützen, Autokraten in die Schranken weisen.

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Und Joe Biden liefert. Dem saudischen Angriffskrieger Bin Salman hat er das Geld für den Feldzug im Jemen gestrichen. Den israelischen Nahost-Bulldozer Netanjahu lässt er an der diplomatischen Leine zappeln. Gegen die chinesischen Diktatoren schmiedet er eine Allianz mit Japan, Indien, Südkorea und Australien. Und dem Mann im Kreml zeigt er die Rote Karte: Einen "Mörder" hat Biden den russischen Präsidenten genannt, offenbar vor dem Hintergrund der Anschläge auf Regierungskritiker wie Alexej Nawalny. Wladimir Putin verstehe nur Härte, davon sind die neuen US-Außenpolitiker überzeugt. Also bekommt er nun die volle Härte zu spüren – und seine Handelspartner ebenso. Auch Deutschland. Um zwanzig nach sechs unserer Zeit kam die Eilmeldung gestern Abend: Die amerikanische Regierung verlangt den Sofort-Stopp der Arbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 2, durch die russisches Erdgas nach Deutschland fließen soll. Andernfalls droht Außenminister Blinken allen Beteiligten mit Sanktionen. Putin bekommt die Rote Karte, Merkel bekommt die Gelbe.

Die Bundesregierung braucht sich über den Verweis noch nicht einmal zu wundern. Schon Trumps Regierung hatte mit Strafen gedroht – Bidens Team macht genau da weiter. Wer gehofft hatte, mit dem neuen, alten Mann würde alles leichter, landet spätestens jetzt auf dem harten Boden der Interessenpolitik. Wenn die USA einen Rivalen isolieren wollen, dann kennen sie kein Pardon, auch nicht gegenüber Verbündeten. Kanzlerin Merkel, Außenminister Maas und Wirtschaftsminister Altmaier stehen am Pranger: Ihre zwischen Zuckerbrot und Peitsche lavierende Russlandpolitik wird kalt ausmanövriert. Von einem Regime Erdgas zu kaufen, das nicht nur in Moskau und Tomsk, sondern auch in London und im Berliner Tiergarten Killer auf Dissidenten hetzt, das demokratische Wahlen im In- und Ausland unterminiert und Computerhacker auf Parlamente loslässt, mag bislang als zynische, aber akzeptable Realpolitik durchgegangen sein. Doch wenn der große Bruder in Washington den Eindruck hat, dass der Kreml zu einer ernsthaften Bedrohung für demokratische Länder geworden ist, bleibt den kleinen Geschwistern in Berlin wohl nur eines: schnell zu gehorchen.


Der Logik gehorcht Deutschlands Corona-Politik derzeit nicht. Den Impfstoff von Astrazeneca hat Pannenminister Spahn gestern Abend wieder erlaubt, aber einen schlüssigen Plan, wie die vorhandenen Dosen schnell unters Volk gebracht werden können, gibt es noch nicht. Die Regierenden wirken konfus, womöglich sind sie von der Korruptionsaffäre in der Union abgelenkt. Gestern Abend ist der nächste CSU-Bundestagsabgeordnete zurückgetreten: Tobias Zech hat nach "Spiegel"-Informationen für die Partei eines korrupten nordmazedonischen Politikers lobbyiert. Die CSU ähnelt in diesen Tagen einem Misthaufen: Je tiefer man gräbt, desto mehr Dreck kommt ans Licht.

Man kommt aus dem Kopfschütteln in diesen Tagen nicht mehr heraus. Allerdings nicht nur über Minister und Parlamentarier. Auch manche Bürger scheinen den Ernst der Corona-Lage nicht mehr wahrhaben zu wollen. Ein kleiner Rundblick am gestrigen Nachmittag vermittelt einen Eindruck von der schwindenden Disziplin: Auf der Modersohnbrücke in Berlin lagert Partyvolk aus aller Welt. Abstand? Maske? Fehlanzeige. In Frankfurt drängen sich Einkäufer vor einem Kaufhaus. In der Münchner U-Bahn hocken Leute ohne Maske. Auf dem Hamburger Flughafen rüsten sich Urlauber für den Malle-Trip. Am Mainzer Rheinufer ignorieren Spaziergänger die Maskenpflicht. "Die spinnen doch! Hier laufen zu gehen, ist das Einzige, was ich noch als Freizeit habe", meint eine Joggerin. Und vielerorts in Deutschland treffen sich Menschen wieder zu Umtrunk, Kindergeburtstagen, Partys. Wie mobil die Bevölkerung schon wieder ist, zeigen meine Kollegen Arno Wölk und Sandra Sperling anhand von Mobilfunkdaten.

Die Leute sehnen sich nach Nähe, Geselligkeit, Freiheit: Alles verständlich. Aber eben auch alles riskant. Manche mögen es Nachlässigkeit nennen, doch Egoismus passt in vielen Fällen besser. "Ich habs einfach satt, Corona und den Lockdown!": Ob im Supermarkt, in der U-Bahn oder am Telefon, der Frustausruf ist immer öfter zu vernehmen. Nach einem Jahr Verzicht, Entbehrung und Isolation ist er nachvollziehbar. Aber angemessen ist er nicht. Wer die Hygiene-, Abstands- und Schutzregeln missachtet, gefährdet sich und andere – und trägt dazu bei, dass der Schlamassel immer länger dauert. Ist das so schwer zu verstehen?


WAS STEHT AN?

Die Regierenden in Bund und Ländern brauchen einen Plan, um das Impfen zu beschleunigen. Heute Nachmittag tagen die Gesundheitsminister unter Vorsitz von Jens Spahn, der unter verschärfter Beobachtung steht. "Es stellt sich die Frage: Ist Spahn für die Politik-Show besser geeignet als fürs solide Regieren?”, schreibt unser Reporter Tim Kummert. Solidität ist allerdings das Markenzeichen der Kanzlerin, die anschließend mit den Ministerpräsidenten bespricht, wie und wann die Hausärzte gegen Covid-19 impfen dürfen. Bayerns Söder und Berlins Müller verlangen, dafür auch den russischen Stoff Sputnik V schnellstens zuzulassen, eto moschet bitch nemnoschko opasno. Winfried Kretschmann wiederum will sich heute demonstrativ mit Astrazeneca impfen lassen, des isch bschdimmd ned falsch.

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Und wenn dann hoffentlich endlich alle wissen, was zu tun ist, könnten wir ja mal kurz innehalten und überlegen, was wir aus dem bisherigen Pandemieverlauf für die nächste Seuche lernen können. Viele kluge Leute haben schon viele lange Texte dazu geschrieben, deshalb sollen hier Stichworte genügen:

Eine Pandemie bekämpft man am besten, indem man schnell und entschieden handelt. Und so lange bei harten Regeln bleibt, bis flächendeckend ein Gegenmittel verfügbar ist, Impfstoffe oder Medikamente. Infektionsherde sind sofort rigoros einzudämmen – mit lokalen oder regionalen Ausgangssperren, im Zweifel auch geschlossenen Grenzen. Nicht nach wochenlangen Debatten, sondern binnen Stunden. Sobald es eine Testmethode gibt, sollte der Staat die Tests massenhaft produzieren lassen, dafür lohnt sich jeder Euro. In Städten sollte es Testmöglichkeiten an jedem Knotenpunkt geben. Die Bundes- und Landesverwaltungen sollten digital organisiert und vernetzt sein, dabei hilft eine gemeinsame Plattform mit Schnittstellen zu den regionalen und lokalen Behörden. Eine funktionierende App zur Nachverfolgung von Kontakten braucht es auch, na klar. Eine eigene staatliche Impfstoffproduktion ist entscheidend, die Bundesregierung hat sie bereits für nächstes Jahr geplant. Pharmazeutische Grundstoffe sollte man vorsorglich bunkern, ebenso wie Masken, Kittel, Kanülen und so weiter. Um möglichst schnell möglichst viele Menschen impfen zu können, sind pragmatische Lösungen besser als bürokratische Regeln: Hausärzte, Pflegeheime und mobile Dienste sollten von Anfang an eingebunden werden.

Auch klare Kommunikation ist wichtig. Jeder Politiker mag ja seine Ideen und Meinungen kundtun, aber es braucht ein täglich tagendes Krisenkabinett, das schnell, entschlossen und transparent entscheidet, mit Durchgriffsrechten in den Bundesländern. Dabei sollte es sich permanent von Fachleuten beraten lassen, nicht nur von Virologen und Epidemiologen, sondern auch von Soziologen, Ökonomen und Vertretern der Zivilgesellschaft. Natürlich braucht es ein besser ausgestattetes Gesundheitswesen, das nicht auf Profit, sondern konsequent auf die Vorsorge, Behandlung und Pflege von Patienten ausgerichtet ist. Dazu gehört eine angemessene Bezahlung von Pflegekräften. Das alles kann helfen, aber es bewirkt wenig ohne die Bereitschaft der Bevölkerung, sich auf die Krisensituationen einzulassen, Disziplin und Rücksicht zu üben, auch monatelang. Denn das ist das wichtigste Fazit: Eine Weltkrise können wir nur alle gemeinsam bewältigen. Und wenn wir schon mal dabei sind, könnten wir auch gleich mal unseren Lebensstil hinterfragen: Können wir es uns wirklich leisten, die Ressourcen unseres Planeten weiter auszubeuten, die Natur zu vergewaltigen und in die letzten Refugien wilder Tiere einzudringen? Rücksicht ist ja nichts, was man nur Menschen angedeihen lassen sollte.


Die Frage, wer von beiden denn nun die Kanzlerkandidatur übernimmt, werden Annalena Baerbock und Robert Habeck wohl auch heute nicht beantworten. Immerhin stellen die beiden Grünen-Vorsitzenden schon mal den Entwurf des Wahlprogramms vor. Wie die "Tagesschau" vorab berichtet, fordert die Partei einen digitalen Verwaltungsapparat, einen stärkeren Ausgleich zwischen Artenschutz und Investitionen sowie die ausschließliche Zulassung emissionsfreier Neuwagen ab 2030. Für den klimaneutralen Umbau der Wirtschaft wollen die Grünen ein 500 Milliarden Euro teures Zehn-Jahres-Programm für Schieneninfrastruktur, erneuerbare Energien und Energienetze auflegen. Billiger gehts wohl nicht.

Apropos Klimaschutz: Nach längerer Sendepause melden sich heute auch die Aktivisten von Fridays for Future zurück. In mehr als 50 Ländern wollen sie unter Einhaltung der Corona-Regeln auf die Straßen gehen und für die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels demonstrieren. In Deutschland sind Aktionen in mehr als 200 Städten geplant.


Erst zum Test, dann ins Theater: Nach monatelanger Pause öffnen in Berlin die ersten Bühnen für ein Pilotprojekt, bei dem das Publikum vorab zum Corona-Test muss. Den Auftakt macht heute Abend das Berliner Ensemble mit seiner Inszenierung von Benjamin von Stuckrad-Barres "Panikherz". Die Karten waren nach wenigen Minuten ausverkauft.


WAS LESEN?

Die katholische Kirche war ein Hort vor Kinderschändern, scheinheilige Verbrecher konnten sich dort jahrzehntelang austoben und wurden von anderen gedeckt: Diese Wahrheit ist nicht neu, aber nach dem gestern vorgestellten Gutachten im Kölner Missbrauchsskandal haben wir sie noch einmal schwarz auf weiß bekommen. Es ist eine erschütternde Bilanz, kommentiert die "FAZ".


In den Chefetagen vieler deutscher Unternehmen sucht man Frauen noch immer vergeblich. Weil die freiwillige Selbstverpflichtung nicht gefruchtet hat, soll der Bundestag nun eine Mindestbeteiligung von Frauen in Vorständen beschließen. Meine Kollegin Christine Holthoff hat die Wirtschaftsweise Monika Schnitzer gefragt, welche Wirkung sie sich von einer Quote verspricht und wo die Regel an Grenzen stößt. Die Quote ist allerdings nicht die einzige Idee, um mehr Frauen in Führungspositionen zu bringen. Welche anderen Vorschläge es gibt, lesen Sie hier. Die Schauspielerin Maria Furtwängler wiederum hat eine klare Meinung, die sie meiner Kollegin Maria Bode erläutert hat.


Es gibt Leute, die Klartext reden können. Der Politikwissenschaftler Klaus Schroeder ist so einer. Was er meinem Kollegen Marc von Lüpke über die gegenwärtige Lage in der deutschen Politik gesagt hat, ist, nun ja… drastisch.


WAS AMÜSIERT MICH?

Manchmal bleibt einem das Lachen im Halse stecken.

Trotzdem wünsche ich Ihnen einen schönen Tag. Der Wochenend-Podcast kommt morgen von Peter Schink und Marc Krüger, von mir lesen Sie am Montag wieder. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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