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In Zeiten der Pandemie: Gab es wegen Corona wirklich mehr Suizide?


Effekt mit Verzögerung?
Polizei: Es gab keine Suizidwelle in der Corona-Krise


Aktualisiert am 16.05.2021Lesedauer: 5 Min.
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Suizide: Mit den weitreichenden Einschränkungen in der Corona-Krise war ein starker Anstieg der Selbsttötungen befürchtet worden. Zahlen der Polizei zeigen, dass es dazu nicht gekommen ist.Vergrößern des Bildes
Suizide: Mit den weitreichenden Einschränkungen in der Corona-Krise war ein starker Anstieg der Selbsttötungen befürchtet worden. Zahlen der Polizei zeigen, dass es dazu nicht gekommen ist. (Quelle: Julian Stratenschulte/dpa)

Es war eine große Sorge: In der Corona-Krise könnten sich mehr Menschen das Leben nehmen. t-online liegen exklusiv Zahlen vor, die dem widersprechen. Entwarnung wäre aber verfrüht.

In der Corona-Krise haben sich nicht deutlich mehr Menschen das Leben genommen als in den Jahren davor. Es ist nichts davon zu sehen, dass die "Suizide in die Höhe schnellen", wie etwa "Querdenker" regelmäßig behaupten. Das legen Zahlen der Landeskriminalämter nahe, die zum Teil ein sehr genaues Bild haben.

Wenn sich Menschen das Leben nehmen, liegt das an einem Komplex von verschiedenen Faktoren, erklärt Ute Lewitzka, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Deshalb sah sie auch sehr kritisch, als in den Medien der Suizid eines hessischen Politikers Ende März 2020 mit Corona "erklärt" worden sei.

Krisen allein führen nicht dazu, dass sich ein Mensch das Leben nimmt: Suizidabsichten sind Folge einer psychischen Störung, die oft erfolgreich behandelt werden könnte und für die es Hilfsangebote gibt. Aber die Behandlungsmöglichkeiten waren 2020 deutlich schlechter, und die Probleme zugleich größer.

In Bayern die meisten Fälle

Dennoch gibt es keine Hinweise auf deutlich gestiegene Suizidzahlen: t-online liegen Einschätzungen von Landeskriminalämtern aus Bundesländern vor, die zusammen in den vergangenen Jahren mehr als 80 Prozent der deutschlandweiten Suizide zu verzeichnen hatten: Sie berichten, dass die Zahlen 2020 fast unverändert blieben oder allenfalls minimal gesunken sind.

Bayern ist das Bundesland, in dem sich in den vergangenen Jahren in absoluten Zahlen die meisten Menschen das Leben genommen haben. Hier registrierte das LKA mit 1.720 Fällen im vergangenen Jahr zwar 22 vollendete Suizide mehr als 2019. Das waren aber 128 Selbsttötungen weniger als etwa 2016.

Die Zahlen von Bayerns Polizei liefern einen aussagekräftigen Eindruck: Sie lagen in den vergangenen Jahren letztendlich jeweils geringfügig höher als der spätere Wert in der amtlichen Todesursachenstatistik. Dazu gibt es die letzten gesicherten Zahlen vom Statistischen Bundesamt für 2019 – bundesweit 9.041, in Bayern 1.520. Bis das Bundesamt die verifizierten Zahlen aller Standesämter für 2020 veröffentlicht und die amtliche Zahl der Suizide bekannt wird, wird es mindestens August werden.

Polizei erfasst zum Teil nicht

Wenn es bei einem Toten Hinweise auf nicht natürliche Todesursachen gibt, muss die Polizei zugezogen werden. Darunter fallen Suizide. Das heißt aber nicht, dass die Polizeibehörden auch Buch führen. Das Innenministerium Mecklenburg-Vorpommern rechnete auf eine entsprechende Landtagsanfrage vor: Um Suizide seit 2017 zu beziffern, müssten 5.000 Todesfälle händisch ausgewertet werden, das dauere 300 Arbeitstage. Auch Hamburg oder Niedersachsen haben keine Zahlen. Der Grund: Für die Kriminalstatistik spielen Selbsttötungen keine Rolle.

Manche Bundesländer nutzen aber Systeme, in denen bei der Vorgangsbearbeitung Informationen dazu hinterlegt werden können – zum Teil nicht verpflichtend. Sachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz, Berlin und Hessen teilten auf Anfrage solche Daten mit. Sie zeigen Rückgänge oder keine wesentliche Veränderung.

Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg lieferten keine detaillierten Zahlen, sind der Frage der Suizide aber nachgegangen. "Aus internen Auswertungen ergeben sich Hinweise, dass im Jahr 2020 weniger Suizide im Vergleich zu den Vorjahren polizeilich bekannt wurden", heißt es auf t-online-Anfrage aus Düsseldorf. Baden-Württemberg berichtet, man habe "tendenziell eine marginale Abnahme der Selbsttötungen feststellen können".

Im langjährigen Trend ist das auch zu erwarten: 1981 hatten sich Tag für Tag etwa 50 Menschen das Leben genommen, 2019 waren es 25. Vor allem Kritiker der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Krise hatten aber durch die Einschränkungen und wirtschaftlichen Folgen deutliche Anstiege prophezeit. Wenn die Zahlen jetzt nicht gestiegen sind – ist das überraschend?

Welle erst nach der Krise?

Dazu gibt es verschiedene Sichtweisen: Der Effekt könnte sich noch einstellen, warnt Ute Lewitzka, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. "Erfahrung und Daten früherer Ereignisse wie der Spanischen Grippe zeigen, dass es eher im Anschluss an die Krise zur Steigerung der Rate kommen kann", so die Expertin der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Dresdner Uni: In der Krise geht es zunächst ums Überleben – und wenn danach klar wird, wer oder was verloren oder kaputt gegangen ist, kann das in suizidale Krisen münden.

Zudem hätten in Deutschland Sicherungssysteme gegriffen wie das Aussetzen der Insolvenzmeldungen. "Auch wenn das nur ein Faktor unter vielen ist, glaube ich, dass es sonst jetzt schon anders aussähe", so Lewitzka.

Mehr gescheiterte Versuche?

Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, hat eine andere mögliche Erklärung: Die Zahl der vollendeten Suizide sei vielleicht deshalb nicht deutlich gestiegen, weil suizidale Handlungen häufiger im häuslichen Umfeld erfolgen und hier eher weniger tödliche Suizidmethoden gewählt werden. In den Lebensumständen zu Corona-Zeiten wären demnach anteilig mehr Menschenleben gerettet worden.

"Die Suizidversuche machen mir große Sorgen", so der Professor der Frankfurter Uni-Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zu t-online. Eine Grundlage ist das „Deutschland-Barometer Depression“ seiner Organisation. Das ist eine im Februar erfolgte repräsentative Befragung von 5.135 Erwachsenen. Dabei hatten 13 von Depression betroffene Personen angegeben, in den sechs Monaten zuvor einen Suizidversuch unternommen zu haben. "Hochgerechnet auf die Gesamtbevölkerung würde das allein für diese Gruppe circa 140.000 Suizidversuche innerhalb eines halben Jahres ergeben", so Hegerl. Da es dazu keine Vergleichszahlen gibt, könne nicht auf eine Erhöhung geschlossen werden. "Die Zahl ist jedoch deutlich höher als nach bisherige Schätzungen anzunehmen gewesen wäre.“

Bayern wie Berlin erfassen zumindest auch Einsätze wegen solcher Versuche. Sie registrierten keine Ausreißer, Berlin sogar einen spürbaren Rückgang. Sachsen-Anhalt kam bei einem Vergleich der ersten 11 Monate 2020 im Einsatzleitsystem mit dem Dezember 2019 zu einer Verelffachung, also auch zu keiner Auffälligkeit. Aber: Die Polizei bekommt nur einen geringen Teil der gescheiterten Suizidversuche mit, die Dunkelziffer ist hoch.

Folgeschäden durch Depressionen

Hegerl fordert eine systematische, repräsentative Erhebung der Suizidversuche und anderer negativer Folgen der Maßnahmen gegen Corona "Nur wenn wir das Ausmaß an Leid und Tod, das durch die Maßnahmen in der Pandemie verursacht wird, genau kennen, können wir eine Nutzen-Risiko-Abwägung machen und für die Zukunft lernen." Rechne man die Angaben aus der Befragung hoch, dann hätten zwei Millionen depressiv Erkrankte einen Rückfall oder eine Verschlechterung ihrer Depression erlitten. Depression sei Stress für den ganzen Körper und verursache oder verschlechtere andere Erkrankungen wie Herzinfarkt, Schlaganfall oder Diabetes mellitus, so Hegerl.

Insbesondere von schwer kranken Menschen seien weniger in Behandlung gekommen, sagt Ute Lewitzka von der Gesellschaft für Suizidprävention. Dadurch könne der gesamte Verlauf ungünstig beeinflusst werden mit Folgen über das Ende der Pandemie hinaus. Das nachzuweisen werde aber schwer, dafür sei es noch zu früh.

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Sie hat eine andere, näher liegende Prognose: Wenn die Einschränkungen der Pandemie immer weiter zurückgenommen werden, erzeugt die Rückkehr zum normalen Leben für eine kleine Gruppe von Menschen mit Sozialphobien mehr Druck und Stress. "Für die große Gruppe von Menschen mit Depressionen wird es mit geregelteren Abläufen, gewohntem Sport und den sozialen Kontakten wieder besser."

Hinweis: Hier finden Sie sofort und anonym Hilfe, falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen.

Verwendete Quellen
  • Anfragen an alle Landeskriminalämter
  • Anfragen an Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention und Stiftung Deutsche Depressionshilfe
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