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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vielarbeiter berichten "Wenn du auf 40 Stunden pochst, fliegst du raus"

Mehr Geld auf dem Konto – dafür aber gesundheitliche Probleme und kaum noch Freizeit: Das sind die Folgen von regelmäßiger Mehrarbeit. Betroffene berichten aus ihrem Leben als Leistungsträger.
Friedrich Merz, Wirtschaftsministerin Katherina Reiche, Ökonomen und große Arbeitgeberverbände sind sich einig: In Deutschland soll mehr gearbeitet werden. Der Kanzler forderte bei seinem Amtsantritt gar eine "gewaltige Kraftanstrengung" von den Bürgerinnen und Bürgern. So könnte die Produktivität erhöht und die hiesige Wirtschaft wieder angekurbelt werden, lautet die Argumentation.
Dabei ist das Arbeitsvolumen in Deutschland bereits hoch. Im Jahr 2024 waren in Deutschland durchschnittlich rund 46,1 Millionen Menschen erwerbstätig – ein neuer Höchststand seit der Wiedervereinigung. Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit aller Erwerbstätigen lag jedoch nur bei 34,8 Stunden. Damit ist Deutschland im internationalen Vergleich abgeschlagen – der EU-Durchschnitt betrug 2024 etwa 37,1 Stunden pro Woche. Zwar sind hierzulande viele Menschen erwerbstätig, jedoch oft in Teilzeit oder mit reduzierter Wochenarbeitszeit.
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Ein erheblicher Anteil der Erwerbstätigen arbeitet jedoch auch regelmäßig mehr als 40 Stunden in der Woche – oft sind es Gutverdiener und Leistungsträger. t-online hat mit Betroffenen über Arbeitsbelastung, Geld und die politische Forderung nach Mehrarbeit gesprochen und ihre Aussagen protokolliert.
Die Assistenzärztin, 29
"Ich mache meine Ausbildung zur Fachärztin und arbeite an einer Uniklinik. Oft fängt mein Arbeitstag um 6.30 Uhr an und ich bleibe bis 21 Uhr in der Klinik. Dazu kommen noch Bereitschaftsdienste, bei denen ich 24 Stunden lang im Krankenhaus bin. Durchschnittlich arbeite ich etwa 80 Stunden die Woche – mein persönlicher Rekord waren mal 119 Stunden. Dafür bekomme ich derzeit rund 85.000 Euro brutto Jahresgehalt.
Überstunden sind in dem Beruf nicht so leicht zu umgehen. Nach dem Studium muss jeder Berufsanfänger in der Klinik arbeiten und Bereitschaftsdienste übernehmen. In einer Uniklinik werden aber deutlich mehr Überstunden gemacht als anderswo. Ich nehme das in Kauf, weil wir ein besonderes Kollektiv sind und viele seltene Fälle behandeln.
Die Überstunden haben einen großen Einfluss auf mein Sozialleben. Ich wohne neben einer netten Bar, war aber bislang noch nie dort, weil ich erst so spät nach Hause komme und zu erschöpft bin. Auf der Arbeit bin ich oft gestresst, weil ich nicht hinterherkomme und Patienten, Angehörigen und Kollegen nicht gerecht werden kann. Regelmäßig empfinde ich die Belastung als zu viel. Das verändert mich: Ich bin dann schon morgens müde und sehr gereizt. Es geht aber überraschend wenig schief, denn die medizinischen Fälle sind ernst und du wirst davon wach und funktionierst.
Von der Debatte um eine Erhöhung der Arbeitszeit halte ich nichts. Die meisten Menschen sind doch jetzt schon den ganzen Tag mit Arbeit beschäftigt, was sollen wir da noch erhöhen? Ich denke eher, dass wir viel effizienter sein und Prozesse vereinfachen könnten. Da ist noch Luft nach oben. Ich persönlich könnte mir vorstellen, 50 Stunden die Woche zu arbeiten. Das wäre eine deutliche Reduktion zu jetzt und würde mir diversere Lebensinhalte ermöglichen. Doch bisher waren Vorstöße, die Arbeitsbelastung zu verringern, nicht erfolgreich. Einige Oberärzte haben das Problem der jüngeren Generation abgetan, früher hätte sich niemand beschwert, meinten die."
Der Investmentbanker, 54
"Ich habe über 20 Jahre bei einer großen Bank gearbeitet und global Verantwortung getragen. In der Branche sind Überstunden normal. Ich war oft von 7.30 Uhr bis 21 Uhr im Büro oder tagelang auf Geschäftsreise unterwegs. Schwer zu sagen, was davon alles Arbeitszeit war. Ich schätze aber, ich bin auf etwa 50 bis 60 Stunden die Woche gekommen, gelegentlich waren es auch über 70. Die Bezahlung im Bankengewerbe ist gut – und lag bei mir im sechsstelligen Bereich.
Ich habe gerne so gearbeitet, mir hat das Spaß gemacht. Der Job war auch mit meiner Familie vereinbar, denn ich war am Wochenende immer zu Hause, und meine Kinder wussten: Papa ist Freitagabend um 18 Uhr da. Dafür konnte ich nicht mehr so ausgiebig Sport treiben, meine Freizeit war reduziert, und mein Freundes- und Bekanntenkreis hat gelitten.
Mir wurde die Belastung nie zu viel, aber ich habe Menschen in meinem Umfeld gesehen, die Burn-out hatten. Das kommt meiner Meinung nach aber nicht von einer 60-Stunden-Woche, sondern von negativer Belastung, Stress und privaten Problemen. Nicht Mehrarbeit ist das Problem, sondern die Arbeitsinhalte. Ich selbst will heute nicht mehr so viele Überstunden machen, sondern eher weniger arbeiten. Meine Belastbarkeit hat sich reduziert, und ich schätze meine Freizeit mehr.
Die Forderung von Friedrich Merz unterstütze ich. Deutschland befindet sich in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage, und unser Rentensystem könnte uns bald um die Ohren fliegen – deshalb müssen wir entweder sparen oder mehr arbeiten. Das ist in anderen Ländern normal: Ich glaube etwa, dass die Arbeitsmoral in Asien deutlich höher ist als hier. Ein Beispiel: Mich hat ein Mitarbeiter aus Südkorea gefragt, ob er ausnahmsweise im Sommer eine Woche Urlaub am Stück nehmen dürfte. Er sei zwar erst seit drei Jahren im Unternehmen, aber es wäre für seine Hochzeit. Die Menschen dort haben viel weniger Urlaubstage und nutzen nicht einmal diese aus. Ich habe meine Mitarbeiter jedoch immer angehalten, alle 30 Urlaubstage zu nehmen und ordentlich zu regenerieren."
Der Anwalt, 31
"Ich habe nach meinem Jurastudium in einer Kanzlei im Bereich Private Equity angefangen, die Mandanten bei großen Transaktionen berät. Dort haben alle Anwälte ungefähr 60 bis 70 Stunden die Woche gearbeitet, das wird in dem Beruf so erwartet. Wenn du da auf eine 40-Stunden-Woche pochst, fliegst du raus, das weiß auch jeder. Dafür habe ich schon als Berufseinsteiger sechsstellig verdient.
Ich bin mit der hohen Arbeitszeit zurechtgekommen. Das Examen davor war auch schon eine Tortur. Doch ich habe schnell gemerkt, dass der Job das gesamte Privatleben korrumpiert. Du bist Dienstleister und musst immer erreichbar sein, weil so viel Geld im Spiel ist. Über jedem Urlaub hing ein Damoklesschwert, und wenn ich abends essen gegangen bin, war ich angespannt und habe permanent auf mein Handy geschaut.
Ich würde da nicht noch mal beschäftigt sein wollen, denn das Leben ist zu kurz, um nur zu arbeiten. Jetzt bin ich in einer kleineren Kanzlei und arbeite so zwischen 50 und 60 Stunden die Woche. Die Arbeit macht mir Spaß und ist genau mein Ding. Ich habe nie nur 40 Stunden gearbeitet, und ich glaube, das wäre mir zu wenig. Auch in meinem Umfeld gibt es kaum Menschen, die nur 40 Stunden arbeiten.
Ich fühle mich von der Forderung des Kanzlers nicht angesprochen. Und habe auch nicht den Eindruck, dass die Deutschen wenig arbeiten. Wen meint er? Mein Berufsfeld arbeitet viel – das wird auch Friedrich Merz wissen. Wir haben eine große Mittelschicht im Land, die zwar viel arbeitet, aber zu wenig dafür bekommt. Das liegt an hohen Steuern und Abgaben, die den sozialen Aufstieg erschweren. Ich sehe die Gefahr, dass Deutschland deshalb auf der Strecke bleibt."
Die Teamleiterin, 30
"Ich habe vor einigen Jahren bei einer NGO gearbeitet und dort das Marketingteam geleitet. Die Organisation befand sich gerade in einer Transformation und es gab unendlich viel zu tun – sodass ich regelmäßig 60 bis 70 Stunden pro Woche gearbeitet habe. Das war ein 'Passion Project', mir also ein besonderes Anliegen, und hat sehr viel Spaß gemacht. Ich kam gerade von der Universität und konnte schon früh Personalverantwortung übernehmen. Verdient habe ich in dieser Zeit allerdings nur ungefähr 35.000 Euro brutto Jahresgehalt.
Ich fand die Arbeit wichtig und erfüllend. Außerdem hatte ich Mentoren, die mich gefördert haben. Das war ein Privileg, das ich woanders vielleicht nicht bekommen hätte. Doch die Belastung hat sich zunehmend negativ auf mein Leben ausgewirkt. So wurde etwa über Weihnachten unsere neue Webseite live geschaltet. Ich saß an Heiligabend mit meinem Laptop am Esstisch und habe Bugs, also Fehler, gefixt. Meine Eltern waren darüber überhaupt nicht glücklich und haben gesagt, ich solle kündigen.
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Dann wurde der Stress immer schlimmer. Ich konnte nachts nicht mehr schlafen, und zwei Kollegen sind wegen Burn-out gegangen. Nach anderthalb Jahren habe ich dann auch gekündigt, weil mir die Belastung zu groß wurde. In meinem aktuellen Job muss ich gar keine Überstunden mehr machen – denn das Unternehmen ist aufgrund der wirtschaftlichen Lage in Kurzarbeit.
Die Forderung nach mehr Arbeitszeit halte ich für zu einseitig. Denn nur die Zeit erhöhen bringt doch nichts, ich kann auch einfach stundenlang herumsitzen und TikTok-Videos schauen. Tatsächlich gibt es doch viele Jobs, in denen die Arbeitszeit problemlos verkürzt werden könnte. Statt leere Forderungen zu wiederholen, sollte die Politik eher Bedingungen schaffen, die für ein gesundes Arbeitsklima und höhere Effizienz sorgen."
Der geschäftsführende Gesellschafter, 67
"Ich war knapp zehn Jahre als geschäftsführender Partner in einer internationalen Großkanzlei tätig. In dieser Zeit habe ich regelmäßig extrem viel gearbeitet, bestimmt 70 Stunden die Woche, manchmal noch mehr. Ich war nicht angestellt, sondern als Gesellschafter per Vertrag verpflichtet, meine gesamte Arbeitskraft in den Dienst der Kanzlei zu stellen. Dabei habe ich gut verdient. Schon als junger Partner einer Großkanzlei kann man etwa 500.000 Euro im Jahr verdienen – wenn man länger dabei ist und die guten Zeiten sind, kann das aber auch auf ein bis zwei Millionen Euro ansteigen.
Meine Arbeit sah so aus: Ich bin montags ins Büro, hab dann den Flieger nach London genommen und bin in der Woche oft noch weiter nach Berlin, Frankfurt, München für die Kanzlei hin- und hergeflogen. Das war einigermaßen ineffizient, aber ich musste eben an mehreren Standorten präsent sein. Ich war immer unterwegs und habe nie da gearbeitet, wo meine Familie lebt, deshalb konnte ich ständig bis abends im Büro sitzen.
Warum ich das gemacht habe, ist eine gute Frage. Es war eben meine Aufgabe in der Sozietät, und ich hatte niemanden, der mir gesagt hat: 'Achte mehr auf dich.' Die Aufgaben haben einfach nie aufgehört, und ich habe immer weiter gearbeitet. Das hatte Auswirkungen auf mein Leben: Ich hatte kaum noch Freizeit, habe schwer zugenommen und stark geraucht. Zu Hause war ich Wochenendvater, habe meine Kinder kaum gesehen, und meine Frau hat alles geregelt. Es war eine sehr lehrreiche und herausfordernde Zeit, aber ich habe auch zehn Jahre Raubbau an meinem Körper betrieben. Noch mal würde ich das nicht machen.
Ich finde die Forderung nach mehr Arbeit erst mal nur populistisch. Deutschland ist doch kein Freizeitpark. Aber es stimmt schon, dass wir hier weniger arbeiten als in anderen Ländern. Ein Zeichen dafür: Ich musste im Ausland wiederholt die Bedeutung des Brückentags erklären, das kannten die gar nicht. Wir leisten uns viel Freizeit, hohe Gehälter und eine teure Verwaltung – auch deshalb ist die Wirtschaft in Schieflage geraten. Ich befürchte aber, Deutschland fällt aus einem Grund zurück: Wir setzen immer noch viel zu wenig auf die Digitalisierung."
- Gespräche mit Betroffenen