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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Streit über Arbeitszeiten Sind die Deutschen zu faul?

So viele Deutsche wie noch nie arbeiten – doch sie schaffen nur vergleichsweise wenige Arbeitsstunden. Experten warnen nun vor Wohlstandsverlust.
Friedrich Merz hat die Deutschen aufgefordert, mehr und länger zu arbeiten. Konzepte wie "Work-Life-Balance" und die Viertagewoche bedrohen den Wohlstand im Land, befürchtet er. Und tatsächlich zeigen Zahlen der OECD, dass die Deutschen weniger Stunden pro Woche arbeiten als Menschen in Griechenland oder Polen. Sind die einstmals fleißigen Deutschen faul geworden?
Deutschlands Wirtschaft ist in den vergangenen Jahren geschrumpft, zuletzt gab es sogar zwei Rezessionsjahre in Folge. Inzwischen zeigt sich eine leichte Erholung, das Wachstum bleibt jedoch schwach. Die schwarz-rote Bundesregierung hat sich vorgenommen, das zu ändern. Ein Hebel soll die Einführung einer wöchentlichen anstelle einer täglichen Höchstarbeitszeit sein. Gewerkschaften befürchten dadurch das Ende des vor einem Jahrhundert hart erkämpften Achtstundentags – und lehnen den Vorstoß rundheraus ab.
Deutschland landet im internationalen Vergleich ganz hinten
Holger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft in Köln (IW) hat die OECD-Zahlen ausgewertet – und gibt dem Kanzler mit seiner Forderung nach mehr Arbeit recht. Der Ökonom sieht großes Potenzial in der Steigerung der Arbeitszeit, denn im Vergleich aller OECD-Länder würden die Deutschen nur auf dem drittletzten Platz landen. 2023 kamen Erwerbstätige hierzulande im Schnitt auf 1.036 Arbeitsstunden pro Jahr – dagegen waren es in Griechenland 1.172 Stunden, in Polen 1.304 Stunden und beim Spitzenreiter Neuseeland ganze 1.402 Stunden.
"Die Verlängerung der Arbeitszeit ist eine wesentliche und notwendige Schraube, um den demografischen Wandel zu bekämpfen", sagt der Ökonom zu t-online. Nach einer Prognose des IW gehen in den nächsten zehn Jahren fast 20 Millionen Babyboomer in Rente, doch nur etwa 12,5 Millionen jüngere Arbeitskräfte kommen nach – demnach könnten im Jahr 2036 rund sieben Millionen Arbeitskräfte weniger zur Verfügung stehen.
Deshalb müssten die verbliebenen Arbeitskräfte deutlich mehr leisten. Und Schäfer zufolge hätten es viele europäische Staaten geschafft, ihre Arbeitsleistung zu steigern. In Spanien sei die Zahl der Pro-Kopf-Arbeitsstunden (15 bis 64 Jahre) seit 2013 um 15 Prozent gestiegen, in Griechenland um 21 Prozent und in Polen sogar um 23 Prozent. In Deutschland stiegen die Arbeitsstunden pro Kopf in diesem Zeitraum hingegen nur um zwei Prozent.
Das Problem der Statistik
Es gibt jedoch Zweifel an der Aussagekraft dieser Statistik. Eike Windscheid-Profeta vom gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) sieht keine Grundlage, um die Arbeitsstunden international zu vergleichen, weil die Arbeitszeit weiterhin nicht verbindlich dokumentiert werde. Selbst das IW räumte bei einer früheren Erhebung ein, dass die Angaben der Länder schwer vergleichbar seien.
Die Aussage, dass generell mehr gearbeitet werden müsse, hält Windscheid-Profeta für "keine gerechtfertigte Forderung". Zwar sei die durchschnittliche individuelle Arbeitszeit gesunken, aber "das Gesamtarbeitsvolumen in Deutschland ist auf einem Höchststand: über 45 Millionen Menschen sind erwerbstätig", sagt er. Im vergangenen Jahr waren 77 Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahren beschäftigt – ein Rekordwert. Deutschland ist damit Spitzenreiter in der EU, teilte das Statistische Bundesamt mit.
Spitzenreiter in Teilzeit
Doch wie passt die hohe Beschäftigung mit den vergleichsweise niedrigen Arbeitsstunden in Deutschland zusammen? Dafür ist wohl die hohe Teilzeitquote verantwortlich. Denn in kaum einem anderen Land der EU arbeiten so viele Beschäftigte in Teilzeit wie in Deutschland. 2024 waren hierzulande 29 Prozent der Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren in Teilzeit beschäftigt. Höher war die Teilzeitquote lediglich in den Niederlanden (43 Prozent) und Österreich (31 Prozent). Zum Vergleich: EU-weit arbeiteten nur 18 Prozent der Erwerbstätigen in Teilzeit.
Frauen in Deutschland waren dabei mehr als viermal so häufig in Teilzeit (48 Prozent) wie Männer (12 Prozent). Dies sei kein Ausdruck von Faulheit, sondern von Notwendigkeit, sagt Windscheid-Profeta. Viele beschäftigte Frauen arbeiteten in Teilzeit, weil Betreuungsangebote für Kinder oder Pflegebedürftige fehlten. Ein weiterer Grund ist das Ehegattensplitting, das Paare begünstigt, bei denen ein Partner deutlich mehr verdient. Für den anderen Partner lohnt es sich dann häufig nicht, selbst zu arbeiten oder aufzustocken.
Doch trotzdem hält Windscheid-Profeta die hohe Quote für ein Problem. "Viele wollen mehr arbeiten, aber bleiben in der Teilzeitfalle hängen", sagt der Soziologe. Die Teilzeitfalle beschreibt ein strukturelles Problem: Wer einmal in Teilzeit arbeitet, bleibt oft dauerhaft darin gefangen und hat somit geringeres Einkommen, schlechtere Aufstiegschancen und langfristig niedrigere Rentenansprüche
Experte fordert Stopp für Gesetzesvorhaben
Auch IW-Ökonom Holger Schäfer sieht die vielen Beschäftigten, die nicht Vollzeit arbeiten, kritisch. In dieser Gruppe stecke das größte Potenzial, um die Quote der Arbeitsstunden zu erhöhen. "Die Teilzeitler sind die am niedrigsten hängenden Früchte", sagt Schäfer.
Um eine Trendwende einzuleiten, bräuchte es keine moralischen Appelle. Der Ökonom erklärt: "Jeder bestimmt selbst, wie viel er arbeitet", das sei keine Entscheidung von Politik oder Ökonomie. Doch die Politik könne die Rahmenbedingungen ändern, um längeres Arbeiten attraktiver zu machen. Deshalb müsse der Staat etwa die Betreuungs-Infrastruktur ausbauen und die Abgabenbelastung verringern, damit eine Erhöhung der Stunden möglich wird und sich auch lohnt.
Zudem solle die schwarz-rote Koalition einige ihrer Gesetzesvorhaben stoppen. Dazu zählt er etwa die Familienstartzeit, die einen zweiwöchigen Urlaub für den Partner nach der Geburt eines Kindes vorsieht, sowie das Familienpflegegeld, das Menschen ausgezahlt werden soll, die ihre Erwerbstätigkeit für die Pflege von Angehörigen aussetzen. Dies seien zwar "ehrenwerte Zielsetzungen", doch letztlich "staatliche Prämien dafür, dass jemand nicht arbeitet", so Schäfer.
Viele Menschen wollen Stunden reduzieren
Eine Hürde für die Erhöhung der Arbeitsstunden dürften jedoch die Arbeitnehmer selbst sein. Denn nach ihrem Wunschwochenpensum gefragt, erklärte im Jahr 2023 eine Mehrheit, dass sie eher weniger Zeit im Job verbringen wollen. Laut Sozio-ökonomischem Panel wünschten sich die Menschen in Deutschland im Schnitt eine wöchentliche Arbeitszeit von 32,8 Stunden.
Doch eine neue Umfrage des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit zeigt auf, dass Arbeitnehmer durchaus zu mehr Stunden motiviert werden könnten. Der Hebel: steuerfreie Prämien. Demnach wären 45 Prozent der Vollzeitbeschäftigten bereit, mehr Überstunden zu leisten, wenn sie einen steuerfreien Zuschlag erhalten würden. Dieser würde laut der Umfrage auch etwa 33 Prozent der Teilzeitbeschäftigten animieren, ihre Stundenanzahl dauerhaft zu erhöhen – im Schnitt um sechs Stunden pro Woche.
Verlust von Wohlstand oder Arbeitnehmerrechten?
Der IW-Ökonom Schäfer stellt abschließend fest, dass die niedrige Zahl der Arbeitsstunden pro Kopf "mit Faulheit nichts zu tun" habe, sondern auf die Rahmenbedingungen zurückzuführen sei. Doch er fordert eindringlich, dass Deutschland die Arbeitszeit pro Kopf erhöhen solle. "Es geht nicht darum, die Wirtschaft anzukurbeln, sondern Wohlstandsverlust zu vermeiden", sagt er.
Der WSI-Soziologe Windscheid-Profeta hält dagegen. So hätten Studien zur Viertagewoche gezeigt, dass bei einer Reduzierung der Arbeitszeit die Produktivität meist stabil geblieben oder sogar gestiegen sei. Entscheidend seien nicht mehr Stunden, sondern die Qualität der Arbeit und die Zufriedenheit der Beschäftigten. In Deutschland werde aktuell sehr gesundheitsgerecht gearbeitet und die wissenschaftlichen Empfehlungen für Arbeitszeit und notwendige Regeneration würden stark berücksichtigt. Diese Errungenschaften sollten bewahrt werden, sagt der Soziologe.
- Gespräch mit Holger Schäfer
- Gespräch mit Eike Windscheid-Profeta
- iwd.de: "Geringe Arbeitszeit schwächt den Standort Deutschland"
- iwkoeln.de: "Holger Schäfer: Griechen arbeiten 135 Stunden im Jahr mehr als Deutsche"
- wsi.de: "Arbeitsvolumen in Deutschland: Wieder mehr und länger arbeiten für Wohlstand und Wohlfahrt"
- tagesschau.de: "Debatte über Arbeitszeit in Deutschland"
- bild.de: "Arbeiten wir wirklich zu wenig? Exklusiv: Die internationale Fleiß‑Tabelle"
- deutschlandfunk.de: "IW‑Direktor Hüther: Arbeitsvolumen muss erhöht werden"
- wdr.de: "Arbeit & Arbeitszeit in Deutschland im europäischen Vergleich"
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa