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Russlands Krieg in der Ukraine: Wie soll das enden?


Putins Krieg in der Ukraine
Der Totengräber


Aktualisiert am 02.06.2022Lesedauer: 12 Min.
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Wladimir Putin: Der russische Präsident hat mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine die alte globale Ordnung zertrümmert.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident hat mit seinem Angriffskrieg in der Ukraine die alte globale Ordnung zertrümmert. (Quelle: imago-images-bilder)

Russlands Angriffskrieg tobt an diesem Freitag seit 100 Tagen. Seither fürchtet die Ukraine um ihre Existenz und die Welt eine noch größere Eskalation. Wie soll das enden?

Der Schock sitzt tief, auch nach 100 Tagen noch. Russland führt seit mehr als drei Monaten einen Angriffskrieg in der Ukraine, Zehntausende Menschen wurden bereits zu Opfern der Großmachtphantasien von Wladimir Putin.

Der russische Präsident bringt nicht nur Tod und Zerstörung in die Ukraine, er löst auch Angst und Hungersnöte in der Welt aus. Die globale Ordnung hat der Kremlchef mit seiner Invasion gesprengt. Ein Ende des Grauens? Nicht in Sicht.

Ein Kontinent, auf dem nur noch wenige Menschen das Leid des Zweiten Weltkriegs persönlich erlebt haben, steht nun wieder vor der Frage: Wie lassen sich Kriege verhindern, wenn ein Autokrat zum Äußersten bereit ist?

Die Nato und auch Deutschland reagierten auf die russische Bedrohung mit einer "Zeitenwende": Viele europäische Länder suchen Sicherheit durch militärische Abschreckung. Die "Wandel durch Handel"-Strategie zur Wahrung des Friedens gilt als gescheitert. Wladimir Putin ist ihr Totengräber.

Wie konnte das passieren – und wo soll es enden? Eine Zwischenbilanz zum 100. Kriegstag.

Putins Krieg gegen den Westen begann viele Jahre zuvor

Putin hat seinen Krieg gegen die Ukraine und den Westen lange vor dem Februar 2022 begonnen. Dass er zurück in das Europa der Großmächte des 19. und 20. Jahrhunderts möchte und der Kreml über das Schicksal des Kontinents sowie vieler kleinerer europäischer Staaten mitentscheiden will, deutete sich lange an – in Reden, in Taten, in Geheimdienstinformationen.

Deshalb destabilisierte Moskau ehemalige Sowjetrepubliken wie Georgien und Moldau. Deshalb ließ Putin vor allem Nationalisten in Europa unterstützen und versuchte mithilfe von Geheimdienstoperationen Einfluss auf die europäische Politik zu nehmen. Vor allem die Europäische Union ist ihm ein Dorn im Auge, weil sie für Russland ein mächtigerer Gegenspieler ist als einzelne Staaten.

Vor dem Euromaidan 2014 in der Ukraine übte Russland über eine prorussische Regierung in Kiew Kontrolle über das Nachbarland aus. Das änderte sich, weil immer mehr Ukrainer keine kremltreue und korrupte Regierung mehr dulden wollten. Erstmals in der ukrainischen Geschichte gab es gesellschaftliche Mehrheiten für eine stärkere Bindung an die EU.

Putin wollte das nicht akzeptieren. Es folgte die erste Eskalation: Russland annektierte 2014 die Krim und unterstützte militärisch die Separatisten im Donbass – der Region im Osten der Ukraine, in dem es prorussische Mehrheiten gibt.

Dieser Konflikt konnte mit dem Minsker Abkommen nicht gelöst werden, ein Ausgangspunkt des heutigen Krieges. Die Ukraine erlebte 2014 ein Staatstrauma, weil ein großer Teil ihres Gebietes von Russland gestohlen wurde. Folglich rüstete das Land auf, aus Angst vor einem weiteren Angriff durch Putins Truppen. Außerdem befeuerte der russische Landraub den Nationalismus in der Ukraine.

Die Gründe, die Russland 2022 für seinen Krieg anführt, sind nur trotzdem nur eins: frei erfunden. Die ukrainische Armee war niemals so stark ausgerüstet, dass sie zur Bedrohung für Russland hätte werden können. Rechtsradikale Gruppen oder Parteien waren zuletzt politisch so schwach, dass sie nicht mal den Einzug ins Parlament schafften. Und der Nato-Beitritt der Ukraine war auch kein Thema, weil das Militärbündnis ohnehin keine Staaten mit ungelösten Territorialkonflikten aufnimmt.

Das alles wusste auch Putin. Seine Motive für den Krieg sind völlig andere.

Vor dem Krieg: Russische Soldaten marschieren an der Grenze auf

Im Oktober 2021 begann die russische Armee damit, mehr als 100.000 Soldaten, Panzer und Kampfflugzeuge an der ukrainischen Grenze zusammenzuziehen. Mit heutigem Wissen gehen westliche Politiker und Militärexperten davon aus, dass die Entscheidung für einen Angriff zu diesem Zeitpunkt gefallen war.

Vor einem Jahr rechnete im Westen allerdings kaum jemand damit. Die vorherrschende Meinung: Putin will mit seinen Drohgebärden Zugeständnisse erpressen. Rationale Argumente wurden bemüht, zum Beispiel dass die wirtschaftlichen Kosten für Russland zu hoch und ein Angriff auf die Ukraine strategisch nicht sinnvoll sei.

Im Nachhinein betrachtet hatte Putins grausames Drehbuch für hybride Kriege zu diesem Zeitpunkt längst begonnen. Es zeigte sich in verschiedenen Bereichen:

  • Die russische Armee sorgte bis zum Februar 2022 für den größten Truppenaufmarsch in Europa seit dem Ende des Kalten Krieges.
  • Putin ließ den belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko Flüchtlinge an die polnische Grenze bringen, um zu schauen, inwieweit sich die EU erneut durch eine Flüchtlingswelle destabilisieren lässt.
  • Russische Energiekonzerne sorgten für leere Gasspeicher und eine drohende Energiekrise in Europa.
  • Die russische Armee führte gemeinsame Manöver mit belarussischen Truppen durch, die den Angriff vorbereiten sollten.
  • Moskau organisierte auch Übungen der Atomstreitkräfte, die als Drohgebärde gegenüber dem Westen gedacht waren. Der Kreml befürchtete zu diesem Zeitpunkt noch ein Eingreifen der USA.

Vor dem eigentlichen Kriegsbeginn erhöhte Putin so den Druck auf den Westen. Der Kremlchef führte westliche Staats- und Regierungschefs vor, platzierte den französischen Präsidenten Emmanuel Macron und auch Bundeskanzler Olaf Scholz im Februar 2022 noch an einem absurd langen Tisch, der zum Symbol für den Spalt zwischen Russland und dem Westen wurde.

Anfang Januar stellte Russland ein absurdes Forderungspaket an den Westen, wobei Putin genau wusste, dass es nicht erfüllt werden würde. Die USA sollten sich demnach aus Europa zurückziehen und die Nato-Osterweiterung rückgängig gemacht werden.

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Die USA schlugen Moskau vor, dass man beidseitig Truppen und militärisches Gerät in Osteuropa reduzieren könnte und dass es mehr Transparenz bei Manövern geben könnte. Putin ging darauf nicht ein. Spätestens als die russische Armee Ende Januar Blutkonserven an ihre Truppen an der Grenze verteilte, waren westliche Geheimdienste sich sicher: Putin wird angreifen.

Im Westen wollte man die tatsächliche Kriegsgefahr nicht wahrhaben. Putin setzte mit Erfolg darauf, dass viele westliche Staaten mit anderen Krisen zu kämpfen hatten. Macron war im Präsidentschaftswahlkampf, in Deutschland gerade eine neue Bundesregierung im Amt und US-Präsident Joe Biden wollte sich auf innenpolitische Probleme konzentrieren.

Mit zunehmender Kriegsgefahr gewannen die diplomatischen Bemühungen zwar an Intensität. Macron und Scholz wurden im Februar 2022 in Moskau aber belogen und gingen fälschlicherweise davon aus, dass ihr Besuch die Kriegsgefahr verringert hat.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte bereits nach Beginn des russischen Truppenaufmarsches scharfe Sanktionen des Westens gegen Russland. Er wurde nicht gehört – nach heutigem Wissen ein Fehler, der dazu führte, dass Putin mutmaßlich die westliche Reaktion auf seinen Angriffskrieg unterschätzt hat.

Erste Kriegsphase: Gescheiterter Sturm auf Kiew

Ende Februar geht plötzlich alles ganz schnell: Am 21. Februar erkennt Putin die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk an und billigt auch die Stationierung von russischen Soldaten im Donbass.

Am 24. Februar um 4.30 Uhr greift die russische Armee die Ukraine an. Aus Belarus und aus Russland sollen Putins Truppen von Norden und Nordosten her auf Kiew vorrücken. Das Ziel: die ukrainische Regierung abzusetzen.

Von Süden und Osten sollen Verbände der russischen Armee und der prorussischen Separatisten eine Landbrücke zwischen der Krim und dem Donbass herstellen.

Die russische Führung bezeichnet den Krieg als "militärische Spezialoperation". Putin lässt in der ersten Kriegsnacht eine aufgezeichnete Rede ausstrahlen, in der er der Ukraine ihr Existenzrecht als Staat abspricht. Historisch ist das Land für den Kremlchef russischer Boden. Er behauptet, Ziel der Operation sei es, die Ukraine zu entnazifizieren und zu entmilitarisieren. Zusammen mit einem angeblichen Völkermord an russischstämmigen Menschen im Donbass konstruiert sich der Präsident sein Kriegsnarrativ.

In den ersten Kriegstagen gibt es auch in Russland Hunderte Verhaftungen. Proteste gegen Putins "Spezialoperation" sind verboten und werden mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft.

Das sind Putins wirkliche Kriegsziele

  • Für Putin gehört die Ukraine zur russischen Interessenssphäre. Er will das Land nach der Annäherung an die EU wieder unter russische Kontrolle bekommen.
  • Der Kremlchef sieht sich in einem Stellvertreterkrieg mit den USA und möchte US-Interessen in Osteuropa zurückdrängen.
  • Er möchte ein großrussisches Reich wiederherstellen. Nachdem er die völlige politische Kontrolle über Belarus erlangt hat, versucht er es nun in der Ukraine mit militärischen Mitteln.
  • Für den russischen Präsidenten ist es eine Schande, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion viele Russinnen und Russen im Ausland und sogar auf Nato-Territorium leben. Das will er rückgängig machen.
  • Strategisch möchte Putin die Versorgung der Krim und der Separatistengebiete im Donbass sichern.

In der Ukraine kämpfen nun zwei Länder gegeneinander, die sich immer als Brudervölker sahen. Zu Beginn der ersten Kriegsphase wird schnell klar: Putin, der die Ukrainer immer als "Kleinrussen" und als ein hierarchisch untergeordnetes Volk betrachtete, hat sich mit seiner Invasion verrechnet. Es ist anzunehmen, dass der Kreml zumindest teilweise einen wohlwollenden Empfang durch die ukrainische Bevölkerung erwartete. Das Gegenteil ist der Fall: Die ukrainische Nation scheint im Angesicht dieser Gefahr so geeint wie nie zuvor.

Am ersten Kriegstag reagiert die Ukraine noch geschockt auf den russischen Angriff. "Sie sind auf unserem Boden. Vom Norden, vom Süden und von allen Seiten sind sie eingedrungen. Alle Bürger, die dazu bereit sind, sollen sich melden", appelliert Präsident Selenskyj an die Bevölkerung. "Von Ihnen allen hängt nun unsere Unabhängigkeit ab."

Der dramatische Aufruf funktioniert, Selenskyj stellt sich medial wirksam an die Spitze des Widerstandes. Ihm gelingt es, viele ukrainische Bürger für den Kampf zu motivieren. Viele Freiwillige melden sich bei den Rekrutierungsbüros.

Auch das überrascht Russland. Die Invasion war als Feldzug mit einem schnellen Erfolg konzipiert worden. Doch bald zeigt sich: Die russischen Soldaten sind zu schlecht ausgerüstet. Anfangs mangelt es ihnen an Treibstoff und Verpflegung. Im Norden gelingen zwar Geländegewinne, aber die Angriffe der ukrainischen Truppen aus dem Hinterhalt oder mit türkischen Drohnen erweisen sich als äußerst effektiv gegen die langen russischen Panzerkolonnen, die teilweise ohne Aufklärung in feindliches Gebiet vorrückten.

Am 1. März macht ein 64 Kilometer langer russischer Konvoi Schlagzeilen, der offenbar für die Belagerung von Kiew gedacht war. Nachdem er durch ukrainische Hinterhalte immer wieder schmerzvolle Verluste erleiden muss, löst er sich auf.

Im Süden läuft es für die russische Armee dagegen planmäßig. In vergleichsweise kurzer Zeit kann die strategisch wichtige Stadt Cherson erobert und die Hafenstadt Mariupol im Südosten eingekesselt werden – die Landbrücke von der Krim zum Donbass steht.

Im Norden dagegen entwickelt sich der Vormarsch zum Desaster. Zwar können russische Truppen noch Teile des Kiewer Vororts Irpin erobern, aber dann ist Schluss.

Der Widerstand der Ukrainer ist stärker, als der Kreml erwartet hat, vor allem die Panzerabwehrwaffen aus dem Westen helfen der ukrainischen Armee. Es zeigt sich außerdem, dass Putin zu wenige Truppen mobilisiert hat, um ein flächenmäßig so großes Land erobern und halten zu können – ein folgenschwerer Fehler.

Bis zum 3. April ist klar: Wenn russische Truppen nicht nördlich von Kiew eingekesselt werden möchten, müssen sie sich zurückziehen und neu gruppieren. Die Verluste sind inzwischen auch für Russland so hoch, dass Putin seine Strategie verändern muss. Die Schuld sucht er in Moskau offenbar bei seinen Offizieren der Geheimdienste und der Nationalgarde – sie verlieren ihren Job und werden teilweise unter Hausarrest gesetzt.

Auch die Reaktion des Westens hat der Kreml unterschätzt. Schnell verabschieden die EU und die USA scharfe Sanktionen gegen Russland, die man bereits vorbereitet hatte. Die Nato-Ostflanke wird seit Kriegsbeginn stetig mit militärischem Gerät und Soldaten gestärkt, immer mehr Staaten liefern auch Waffen direkt an die Ukraine. Russland wird aus dem Bankensystem SWIFT ausgeschlossen, Rohstoffimporte aus Russland werden reduziert – Putin hat mit seinem Krieg auch das russische Wirtschaftsmodell zertrümmert.

In Deutschland sorgt der russische Angriffskrieg für Chaos, Wut und Unverständnis. Die neue Bundesregierung steckt zu Beginn ihrer Amtszeit in einer fundamentalen Krise. Deutschland, dass sich trotz aller Warnungen aus dem Ausland in den vergangenen 20 Jahren in eine immer größere Energieabhängigkeit von Russland begeben hat, muss sich das eigene Scheitern eingestehen.

Die Bundesregierung muss das Land plötzlich schleunigst unabhängig von russischen Energieträgern machen und steht gleichzeitig unter Druck, die Ukraine mit schweren Waffen zu unterstützen. Dazu reift die Erkenntnis, dass die Bundeswehr nicht in der Lage wäre, das Land zu verteidigen.

Kanzler Olaf Scholz verkündet in den ersten Kriegstagen eine "Zeitenwende" und verspricht ein Sondervermögen für die Bundeswehr mit einem Volumen von 100 Milliarden Euro. International wurde das als wichtiger Schritt wahrgenommen, den Deutschland viele Jahre verschlafen hat. Trotzdem bleibt der Bundeskanzler ein Getriebener dieser Krise, ohne Aussicht auf eine Verschnaufpause.

Kriegsphase zwei: Putin hat einen neuen Plan

Ende März, Anfang April – der Übergang ist fließend – tritt der Krieg in eine neue Phase ein. Auf diplomatischer Ebene entwickelt sich zwischen Russland und der Ukraine ein Katz-und-Maus-Spiel. Zwar treffen sich die Delegationen der Länder mehrfach zu Verhandlungen, zuletzt offiziell am 29. März in Istanbul. Aber eigentlich ist Putin nicht willens, seine Kriegsziele herunterzuschrauben, und er möchte sich auch nicht mit Selenskyj treffen.

Die Ukraine wiederum kann nicht zustimmen, den Süden des Landes aufzugeben und damit die Bevölkerung dort im Stich zu lassen. Die ukrainische Führung würde sich zwar zu einer Neutralitätspflicht bekennen, aber zu Verhandlungen über eine Waffenruhe bräuchte es erst einmal eine Feuerpause – und die lehnt Russland kategorisch ab.

Die Verhandlungsposition der Ukraine hat sich im Verlauf des Krieges verändert. In der ersten Kriegsphase war man sich noch nicht bewusst über die eigenen Fähigkeiten zur Verteidigung, über die eigene Stärke. Nun sieht das mithilfe der westlichen Waffen anders aus. Auch wenn Vertreter des Kremls anderes behaupten, gibt es aber auch kein ernstzunehmendes Angebot aus Russland. Nur Wladimir Putin entscheidet am Ende, ob in der Ukraine noch geschossen wird.

Die russische Armee nutzt die Zeit von Anfang bis Mitte April, um die dezimierten Kräfte neu zu gruppieren und um neue Truppen und militärisches Gerät in das Kriegsgebiet zu bringen. Das Ziel, die Hauptstadt Kiew zu erobern, wird aufgegeben.

Auf ihrem Rückzug aus dem Norden der Ukraine werden die Gräueltaten der russischen Armee sichtbar. Zum Beispiel in Butscha haben russische Truppen und ihre tschetschenischen Verbündeten ein Massaker angerichtet, offenbar wahllos getötet und vergewaltigt. Je mehr Beweise auftauchen, desto entschlossener wird auch die Position des Westens – und desto schwieriger werden Verhandlungen mit Putin.

Zumal die Ukraine jetzt auch militärisch weitere Erfolge feiert. Am 14. April gelingt es der ukrainischen Armee etwa, den russischen Lenkwaffenkreuzer "Moskwa" zu versenken – das Flaggschiff der russischen Schwarzmeerflotte. Für Putin ist das eine Propaganda-Katastrophe.

Seine Truppen setzten nun zu einer zweiten Offensive an: Schleichend beginnt ab dem 20. April der russische Angriff auf den Donbass, der zunächst auf die Eroberung der Gebiete abzielt, die die sogenannten Volksrepubliken für sich beanspruchen. Der Krieg im Osten der Ukraine wird seitdem immer brutaler – und entwickelt sich von einem Eroberungs- zu einem Abnutzungskrieg.

Putin spekuliert darauf, dass die russische Armee in einem langen Konflikt mehr Gerät und Soldaten aufbieten kann als die Ukraine. Seine Armee versucht weiter, den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen, in dem sie auch zivile Ziele mit Artillerie, aus der Luft und mit Raketen beschießt. Und letztlich hofft der Kremlchef, dass der Westen das Interesse verliert und die Unterstützung der Ukraine auch mit Waffen nachlässt.

Die russische Strategie orientiert sich inzwischen stärker an den eigenen Fähigkeiten und an der Taktik der Ukraine. Um auf breiter Front anzugreifen, hat Putin selbst für den Osten des Landes zu wenig Soldaten. Deshalb wird an wenigen Punkten, aber dafür mit großer Überlegenheit an Personal und Gerät angegriffen. Ukrainische Stellungen werden lange Zeit und intensiv mit Artillerie beschossen, somit kann die russische Armee ihre eigenen Verluste verringern, auf Kosten des Terrors gegen die Zivilbevölkerung.

Diese Strategie wendet Russland auch in Mariupol an. Trotz des massiven Beschusses konnten die letzten ukrainischen Truppen das Asowstal-Stahlwerk noch bis zum 20. Mai halten, danach ergaben sie sich. Russland hat nun die völlige Kontrolle über die Hafenstadt. In der Ukraine werden die Verteidiger als Helden gefeiert, in Moskau werden sie von der Propaganda zu Nazis erklärt – in russischer Gefangenschaft drohen ihnen nun Folter und Hinrichtung.

Seit Ende Mai kann Putins Armee im Donbass wieder deutlichere Geländegewinne erzielen. Städte wie Sjewjerodonezk stehen Anfang Juni kurz vor der Eroberung durch Russland. Die nächsten heftigen Kämpfe werden um Slowjansk und Kramatorsk toben. Dort befinden sich das militärische Kommando und die strategischen Reserven der Ukraine für die Kämpfe im Osten.

Fallen die Städte, hat Russland den Kampf um den Donbass mutmaßlich gewonnen. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass die russischen Truppen dort schnelle Erfolge erzielen werden. Die ukrainische Armee hat dort nach 2014 Verteidigungsgräben angelegt.

Im Westen streben Finnland und Schweden derweil die Nato-Mitgliedschaft an. Das ist in Bezug auf die Sicherheitsarchitektur in Europa ein Szenario, das Putin immer verhindern wollte. Um den Westen an der Lieferung schwererer Waffen zu hindern, versucht Moskau die Nato mit der Drohung eines Atomkriegs einzuschüchtern und die internationale Gemeinschaft mit Getreidelieferungen zu erpressen. Das zeigt Wirkung. Insbesondere Deutschland agiert oft zögerlich, Scholz will um jeden Preis eine Kriegsbeteiligung verhindern.

Deutschland diskutiert monatelang über schwere Waffen. Ende Mai erwähnt die Bundesregierung dann plötzlich, dass es eine Nato-Einigung gebe, zumindest keine westlichen Panzer zu liefern. Das führt in der Bundesrepublik zu heftigen Debatten, die Kommunikation des Kanzlers steht in der Kritik.

Unterdessen bröckelt die Geschlossenheit des Westens: Die Türkei blockiert die Nato-Norderweiterung. Ungarn stellt sich beim EU-Ölembargo quer.

Wie könnte der Krieg enden?

Nach 100 Tagen Krieg ruhen momentan alle diplomatischen Bestrebungen. Zwar telefonieren Scholz und Macron in gewissen Zeitabständen mit Putin, aber eine Aussicht auf einen Kompromiss gibt es nicht. Dabei kann eine Lösung am Ende nur am Verhandlungstisch gefunden werden. Und die Ukraine muss für sich entscheiden, ob sie einem Abkommen zustimmt oder nicht.

Noch ist völlig unklar, in welche Richtung sich dieser Konflikt entwickelt. Die Ukraine könnte militärisch immer weiter an Boden verlieren und irgendwann zu einer Verhandlungslösung gezwungen sein, um nicht noch weitere Teile des Landes zu verlieren. Oder Russland könnte irgendwann an seine militärische Leistungsgrenze geraten und durch die Sanktionen wirtschaftlich so angeschlagen sein, dass wiederum Putin seine "Erfolge" in dem Konflikt absichern möchte.

Es bleibt nach 100 Kriegstagen die traurige Erkenntnis, dass die Menschen in Europa sich an diesen Schock gewöhnen müssen. Der Konflikt kann Monate oder sogar noch Jahre andauern und den Kontinent weiter destabilisieren.

Fest steht: Die Welt vor dem 24. Februar existiert nicht mehr und noch ist völlig unklar, wie die Welt nach diesem Krieg aussehen wird. Welchen Platz westliche Werte darin finden werden, hängt davon ab, ob Putin gewinnt oder verliert. Das liegt immer noch ein Stück weit in den Händen des Westens, der aber vor allem eines braucht, um Einfluss ausüben zu können: Geschlossenheit.

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