Neue Machtverhältnisse "Fünf Mächte werden die neue Weltordnung bestimmen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Weltordnung ist zerrüttet, Russlands Krieg und Chinas Aufstieg beschleunigen diesen Prozess. Was aber könnte an ihre Stelle treten? Fünf Mächte werden zukünftig die Geschicke des Globus lenken, vermutet Politologe Herfried Münkler.
Nicht erst Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Instabilität der alten liberalen Weltordnung offenbart. Die USA sind im Inneren zerstritten, China strebt nach Macht und Europa ist nicht so geeint, wie es sein sollte. Welche Ordnung wird also in Zukunft den Globus dominieren? Eine Herrschaft von fünf Mächten wird sich herauskristallisieren, vermutet Herfried Münkler, einer der führenden deutschen Politologen. Welche Staaten das sein könnten, erklärt Münkler, der gerade das Buch "Welt in Unordnung" veröffentlicht hat, im Gespräch.
t-online: Professor Münkler, die bisherige Weltordnung ist nicht erst seit der russischen Invasion der Ukraine 2022 im Zerfall begriffen. Was könnte an ihre Stelle treten?
Herfried Münkler: Fünf große Mächte werden die neue Weltordnung wahrscheinlich bestimmen. Das werden – unter Vorbehalt – die USA, China, Russland, Indien und die Europäische Union sein.
Sie bezeichnen diese fünf Mächte in Ihrem neuen Buch "Welt in Unordnung" auch als "Direktorium der globalen Ordnung". Warum sprechen Sie aber von "großen Fünf"? Warum nicht von drei, vier, sechs oder noch mehr Mächten?
Bei diesen Überlegungen muss man sich daran orientieren, was wahrscheinlich und möglich zugleich ist. Aus diesem Grund habe ich mich an vergangenen Ordnungen orientiert und die jeweiligen Voraussetzungen spieltheoretisch evaluiert. Gegen eine kollektive Hegemonie von drei Mächten spricht die hohe Wahrscheinlichkeit von immer wiederkehrenden Zwei-gegen-eins-Konstellationen. Eine bedrohliche Instabilität wäre die Folge, denn die unterlegene Macht würde beständig nach Unterstützung anderer, nicht der dominierenden Gruppe angehöriger Mächte suchen.
Warum dann nicht sieben Mitglieder?
Sieben sind einfach zu viele. Denn die Last der Verantwortung wäre breit gestreut, eine Mitgliedschaft im Direktorium zudem relativ unattraktiv angesichts dieser Größe. Nein, fünf Staaten werden die Welt zukünftig dominieren. Vergleichbares hat schon einmal funktioniert.
Herfried Münkler, Jahrgang 1951, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der vielfach ausgezeichnete Politologe ist Autor zahlreicher Bücher, darunter "Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618–1648" von 2017. Am 17. Oktober 2023 erscheint mit "Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert" Münklers neues Buch.
Sie spielen auf die Herrschaft der fünf Mächte Großbritannien, Frankreich, Preußen, Österreich und Russland an, die Europa vor allem im 19. Jahrhundert dominierten?
Richtig. Ein solches System ist außerdem bereits mehr als in Grundzügen existent. Die USA sind bis heute ein globaler Hegemon, China ist aber durch seinen Aufstieg immer mächtiger geworden. Russland wird immer ein Wort mitzureden haben – allein aufgrund seines nuklearen Potenzials. Indien wiederum ist eine aufsteigende Macht, die zudem die größte Bevölkerung unter den Staaten der Erde repräsentiert. Wir sollten das sehr ernst nehmen.
Sie haben gerade Europa als fünfte globale Ordnungsmacht in Ihrer Aufzählung nicht erwähnt.
Europa ist ein Sonderfall. Ich bin nicht sicher, ob sich die Europäische Union auf Dauer im besagten "Direktorium" wird halten können. Nehmen wir das wichtigste EU-Land Deutschland: Wirtschaftlich sind wir ein Riese, politisch ein Kleinkind und militärisch ein Zwerg. Eine Mitgliedschaft innerhalb der fünf globalen Führungsmächte ist aber kein Selbstläufer – eine Macht kann jederzeit herausfallen und durch eine andere ersetzt werden. Keine sonderlich angenehme Vorstellung, denn dann diktieren uns andere die Regeln.
Wladimir Putin hat mit seinem Überfall auf die Ukraine 2022 die europäische Sicherheitsordnung endgültig demontiert, zugleich droht im nächsten Jahr eine Rückkehr Donald Trumps in Weiße Haus. Deutschland und andere europäische Staaten machen allerdings wenig Anstalten, ihre Machtbasis zu stärken angesichts dieser Gefahren.
Noch ist das sogenannte "window of opportunity" geöffnet, um Deutschland und Europa diejenigen Fähigkeiten zu verschaffen, die die Abhängigkeit von den USA verringern würden. Aber das Fenster schließt sich. Alle Weckrufe wurden bislang allerdings ignoriert. Es brauchte nicht erst Donald Trump und Wladimir Putin, um die Dringlichkeit deutlich zu machen. Schon der Demokrat Barack Obama hat während seiner Amtszeit als US-Präsident die Hinwendung der USA zum Indopazifik eingeleitet.
Wenn nun aber zukünftig eine Pentarchie, eine Herrschaft der Fünf, die globalen Geschicke leiten sollte: Was wird aus den Vereinten Nationen? Sind sie dann überflüssig?
Die Vereinten Nationen sind nicht überflüssig, aber die in sie gesetzten Erwartungen haben sie nicht erfüllen können. Warum? Weil sie aufgrund ihrer Struktur und Verfassung nicht reformierbar sind. Mächte blockieren sich, gerade im alles entscheidenden Sicherheitsrat. Oder halten Sie es für wahrscheinlich, dass Frankreich oder Großbritannien ihren Sitz im Sicherheitsrat zugunsten der Europäischen Union aufgeben würden?
Das dürfte unwahrscheinlich sein. Aber zumindest offerieren die Vereinten Nationen ihren Mitgliedstaaten ein Mindestmaß an Partizipation an der globalen Politik. In einer von fünf Großmächten dominierten Welt dürfte das anders aussehen.
Tatsächlich böte ein solches "Direktorium" Vorteile. Regeln und Entscheidungen, an deren Einhaltung die Hegemonialmächte interessiert sind, könnten viel effektiver durchgesetzt werden, als es bislang möglich gewesen ist. Denn die "alte" Weltordnung braucht einen "Hüter", das ist im Rahmen einer Pentarchie nicht so. Die USA, die diese Rolle lange ausgefüllt haben, wollen oder können dies aber nicht länger. Trumps "America first" war die Verabschiedung von dieser Rolle. Ein zwischen fünf Staaten ausgemachter Deal ist hingegen eher durchzusetzen als die notorischen Formelkompromisse, die dann doch keinerlei Bedeutung haben.
Manche dieser von einer Fünferherrschaft aufgestellten Regeln dürften für eine Demokratie wie die Vereinigten Staaten weniger akzeptabel sein als für Autokratien wie Russland oder China. Droht nicht eine Schwächung von Demokratie und Menschenrechten?
Es bedarf ohne Zweifel einer Justierung der Interessen. Die USA sind eine liberale Demokratie, die meisten Staaten der Europäischen Union ebenso, während Russland autoritär-autokratisch ist und China autoritär-technokratisch. Indien wiederum ist eine Demokratie, hat allerdings mit Narendra Modi einen Hindu-Nationalisten an der Regierungsspitze. Sie sehen, das Konzert der Mächte ist kompliziert, die Demokratien müssen aus Gründen der Realpolitik aber mit den autoritären Mächten umgehen, um überhaupt eine Ordnung zu etablieren und aufrechtzuerhalten.
Damit hätten wir dann einen demokratischen und einen autokratischen Machtblock, Indien wäre das Zünglein an der Waage. Im Falle der angegriffenen Ukraine hält es China offen mit Russland, während Indien seinen eigenen Vorteil sucht.
Tatsächlich läuft es darauf hinaus, dass die dominierenden Mächte einen Ausgleich miteinander finden müssen. Manche Akteure stören die Ordnung, etwa aus Machtgier oder aus Ressentiments. Russland ist so ein Kandidat. In diesem Fall ist es Chinas Aufgabe, Putin zur Räson zu bringen. Etwa indem es Moskau deutlich macht, dass der Machtgewinn durch territoriale Zugewinne mit einer Selbstverarmung infolge der Sanktionierung durch die übrigen vier Mächte einhergeht. Das würde Putin beeindrucken.
Nun versucht die amtierende Außenministerin Annalena Baerbock mit mehr oder weniger Erfolg eine wertebasierte Front gegen Russland aufzubauen. Ist das Ihrer Meinung nach zum Scheitern verurteilt?
Was Baerbock macht, läuft auf eine Fortsetzung gescheiterter Politik oder eine ungeheure Selbstüberforderung hinaus. Sie reist umher und versucht, Staaten aus der zweiten und dritten Reihe als Unterstützer zu gewinnen, verbunden mit der Ermahnung, Rechtsstaaten zu werden und bürgerschaftliche Partizipation zuzulassen. Aber in den vielen dieser Länder sind autoritäre Regime an der Macht. Was Baerbock ihnen verkündet, würde in letzter Konsequenz bedeuten, dass die jetzigen Eliten ihre Position aufgeben. Das werden sie aber nicht tun, sondern sich Russland oder China zuwenden. Ergebnis: eine weitere Isolation des Westens. Schauen Sie sich doch an, wie wenige Staaten global die Sanktionen gegen Russland mittragen.
"Weltunordnung" ist ein Begriff, mit dem der aktuelle Zustand auf dem Globus beschrieben wird. Was halten Sie davon?
"Weltunordnung" suggeriert, dass es einen scharfen Gegensatz zwischen Ordnung und Unordnung gäbe. Bezug nimmt der Begriff dabei auf die Bipolarität des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion, aber als alleiniges Zukunftsmodell einer globalen Ordnung ist diese Vorstellung angesichts des Aufstiegs Chinas nicht tragfähig. Außerdem stört mich daran, dass darin die Vorstellung enthalten ist, dass wir zu den "alten" Umständen zurückkehren könnten, wenn wir uns nur etwas Mühe gäben. Das ist jedoch eine Illusion.
Zahlreiche Krisen überlappen sich im Augenblick, liegt diese Annahme von einer Welt in "Unordnung" darin begründet?
Wandel vollzieht sich meist allmählich, nicht disruptiv. In der Vergangenheit gingen manche Beobachter davon aus, dass das Amerikanische Zeitalter vom Chinesischen Zeitalter abgelöst würde. Aber auch so etwas nimmt eher Jahrzehnte in Anspruch.
Hegen Sie denn Hoffnung, dass die Europäische Union beim Konzert der Großmächte wird mitspielen können?
Die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen ist die politischste Kommission, die es bislang gegeben hat. Allerdings konnte sie nicht genug bewegen in der Außen- und Sicherheitspolitik, eventuell haben sie dem Green Deal zur Eindämmung der Klimakrise zu hohe Priorität eingeräumt.
Was ist daran falsch? Die Klimakrise wird viele bestehende Probleme verschärfen und neue schaffen.
Das ist richtig. Aber zugleich türmen sich andere Probleme in der unmittelbaren Nachbarschaft auf. Es ist ja nicht nur die Ukraine, die bedroht ist. Wenn wir vom Balkan Richtung Osten gehen, wartet dort ein ungeheurer Raum der Instabilität: Serbien und Kosovo, Aserbaidschan und Armenien, dazu kommen die Türkei, die trotz Nato-Mitgliedschaft eine eigene Mittelmachtpolitik betreibt, und auch der Iran, der gerade wegen seiner Unterstützung der Hamas wieder negativ auf sich aufmerksam gemacht hat. Um nur ein paar Konfliktherde aufzuzählen. Wie sich der Konflikt zwischen Israel, der Hamas und der Hisbollah wie dem Mullah-Regime weiter entwickeln wird, kann auch niemand vorhersagen. Es kann ziemlich schlimm werden, das lässt sich aber prognostizieren.
Dringend notwendig wäre neben der Her- und Bereitstellung militärischer Fähigkeiten die Entwicklung einer Strategie bezüglich dieser vielen Konfliktherde. Haben Sie da Hoffnung? Zumindest für Deutschland?
Die deutsche Politik verfügt über gute Taktiker, es gibt aber weit und breit keine strategischen Köpfe – jedenfalls nicht in den entscheidenden Positionen. Deswegen wird viel taktiert, aber wenig langfristig geplant. Das ist ein Grund für die derzeitige Misere. Ein anderer liegt darin, dass immer zuerst geschaut wird, was die USA machen. Denken wir an die langwierige Diskussion um die Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern an die Ukraine.
Bei einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps im kommenden Jahr würde sich diese Einstellung rächen.
Trumps Rückkehr ins Weiße Haus wäre eine Katastrophe – nicht nur, aber vor allem für die Ukraine. Das scheint die Bundesregierung nicht zu begreifen oder sie drückt sich um die Konsequenzen dieses Begreifens. Putin hat das aber sehr wohl kapiert, er spielt auf Zeit. Warum auch nicht, sie arbeitet schließlich für ihn.
Wenn nun aber der Schock durch den russischen Angriff auf die Ukraine nicht ausreichend war, um Reformen anzustoßen: Was kann denn überhaupt dazu führen?
Die Europäer stehen vor der Frage, ob sie zukünftig eine vernachlässigbare Größe innerhalb der Weltpolitik sein wollen, die hinzunehmen hat, was andere beschließen. Oder ob sie sich zusammenreißen und in der ersten Reihe mitspielen. Ein erster Schritt dazu bestände darin, das Vetorecht innerhalb der Europäischen Union der 27 zu reformieren, damit ein Viktor Orbán aus Ungarn nicht weiter alles Notwendige und Sinnvolle blockieren kann.
Die Wahrscheinlichkeit dafür scheint gering.
Die Europäische Union könnte tatsächlich scheitern und in der neuen Weltordnung nur in der zweiten Reihe sitzen. Dieser Möglichkeit sollten wir uns gewahr sein. Dann stehen wir zwischen Putins Erpressungen auf der einen Seite und der Abhängigkeit in sicherheitspolitischen Fragen von den USA auf der anderen. Die zweite Reihe wird keine Komfortzone sein. Das ist sicher.
Professor Münkler, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Herfried Münkler via Videokonferenz