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Groko-Einigung auf Grundrente – es muss nicht immer ein großer Wurf sein


Was heute wichtig ist
Kompromisse sind besser als permanente Eskalation

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 11.11.2019Lesedauer: 8 Min.
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Groko-Parteichefs Söder, Kramp-Karrenbauer, DreyerVergrößern des Bildes
Groko-Parteichefs Söder, Kramp-Karrenbauer, Dreyer (Quelle: Soeren Stache/dpa-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

"Ein Kompromiss ist dann vollkommen, wenn alle unzufrieden sind." Ein treffender Satz, ein wahrer Satz. Gesagt hat ihn der französische Außenminister Aristide Briand Anfang der Dreißigerjahre. Damals waren die Zeitläufte viel prekärer als heute, trotzdem erleben wir gegenwärtig, welch tiefe Wahrheit diesem Aphorismus innewohnt: Die Bereitschaft zum Kompromiss ist vielen Menschen abhandengekommen. Entweder oder, alles oder nichts, gewinnen oder verlieren, die eigenen Vorstellungen hundert!proz!entig! durchsetzen!!!, sonst wird losgekeilt: Diese archaische Haltung wird für immer mehr Bürger zum Leitbild.

In Großbritannien vertieft das Brexit-Dauerfeuer die Gräben in der Gesellschaft und blockiert alle anderen politischen Prozesse. In Spanien stürzt der Streit zwischen Linken und Rechten, zwischen katalanischen Nationalisten und Verfechtern des Einheitsstaats das Land in die Stagnation. Daran ändert auch das Wahlergebnis von gestern Abend nichts. Und in Deutschland? Auch hierzulande haben viele Bürger den Eindruck, dass die Regierung längst stagniert. Zu großen politischen Entwürfen ist die große Koalition tatsächlich nicht willens oder in der Lage. Aber: In typisch deutscher Beharrlichkeit wurschteln sich CDU, CSU und SPD zu Lösungen durch. Die mögen am Ende nicht perfekt erscheinen, aber immerhin kommen sie zustande.

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Die gestrige Einigung bei der Grundrente ist so ein typischer Groko-Kompromiss:

Bis zu 1,5 Millionen Menschen mit besonders niedrigen Renten sollen ab dem Jahr 2021 eine Grundrente erhalten, die höher liegt als die Grundsicherung. Gesamtkosten: 1,5 Milliarden Euro.

Zeitgleich wird der Beitrag der Arbeitnehmer für die Arbeitslosenversicherung minimal gekürzt: von 2,5 Prozent auf 2,4 Prozent – allerdings nur bis Ende 2022. Danach soll er sogar auf 2,6 Prozent steigen. Die Groko spendiert also jetzt eine Wohltat, steckt die Rechnung aber der nächsten Bundesregierung in den Briefkasten.

Flankierend zur Grundrente wird ein Freibetrag beim Wohngeld eingeführt. Kosten: weitere 80 Millionen Euro.

Der Streit über die Bedürftigkeitsprüfung wird umschifft: Es soll nur eine automatisierte Einkommensprüfung geben, indem Rentenversicherung und Finanzämter die nötigen Daten austauschen.

Das also ist der Kompromiss nach monatelangem Streit zwischen Union und SPD (weitere Details hier). Aus den Stimmen der Großkoalitionäre klingt Erleichterung, aber keine Begeisterung. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer: "Es ist ein gutes, ein vertretbares Ergebnis." SPD-Vizekanzler Olaf Scholz (SPD): "Es ist eine gute Einigung." CSU-Chef Markus Söder: "eine vernünftige Lösung für ganz Deutschland. Damit ist aus meiner Sicht die Halbzeitbilanz der Groko perfekt abgerundet."

Aus der Opposition kommt der Tadel eher tröpfchenweise. Johannes Vogel, rentenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion: ein "klassisch schlechter Kuhhandel", der "voll zu Lasten der Jüngeren" gehe. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt verlangt "Nachbesserungen". Alles in allem aber hält sich die Kritik in Grenzen.

Alles in Butter also an diesem Montagmorgen? Nun ja. Nicht nur Herr Briand hat uns ein Zitat zum Wesen des Kompromisses hinterlassen. Ich habe noch eines gefunden, es stammt von der italienischen Historikerin Romana Prinoth Fornwagner: "Ein Kompromiss muss nicht eine Lösung sein, mit der alle Beteiligten nur halb oder teilweise zufrieden sind. Es kann auch eine völlig neue Idee sein, von der plötzlich alle Beteiligten begeistert sind."

Also: Kompromisse sind zwar besser als permanente Eskalation. Aber völlig neue Ideen: Wäre doch schön, die Regierenden würden uns auch damit mal überraschen, oder?


Es gibt Orte, deren bloße Erwähnung uns an tödlichen Streit erinnert. Belfast: ein blutiges Ringen, ob Nordirland zum protestantischen Britannien oder zum katholischen Irland gehört. Jerusalem: ewige Stadt und ewiger Zankapfel zwischen Israelis und Palästinensern. Juba: In der südsudanesischen Hauptstadt nahmen ein Bürgerkrieg und Afrikas größte Flüchtlingskatastrophe seit 25 Jahren ihren Anfang. Die Stadt Ayodhya gehört auch in diese Reihe, obwohl sie weit weniger bekannt ist – aber nur bei uns. Einen ganzen Subkontinent hat sie jahrzehntelang in Aufruhr versetzt, Tausende Menschen sind wegen ihr gestorben. In Indien kennt sie jeder. Und wenn es ihr Name in die Nachrichten schafft, wird bei der Polizei alles mobilisiert, was Beine hat.

Das war nicht immer so. Jahrhundertelang hat sich niemand um Ayodhya geschert. Eine Moschee stand dort, errichtet von Babur, dem Begründer der muslimischen Mogul-Dynastie. Aber auf Trümmern errichtet! – sagen Hindus, die an eben dieser Stelle den Geburtsort von Rama vermuten, einer Gottesinkarnation, die sich in Indien besonderer Beliebtheit erfreut. Wir wollen unseren Tempel wiederhaben!, forderten sie – erst mit Worten, dann mit Gewalt. Ein Mob legte die Moschee im Jahr 1992 in Asche, angefeuert und organisiert von einer aufstrebenden Hindu-Partei, die sich von der Welle des Zorns in die Parlamente tragen ließ. Die Rechnung ging auf. Zwar wurden die Gräben zwischen Hindus und Muslimen immer tiefer, aber der starke Mann der Partei, Narendra Modi, regiert heute das ganze Land.

Was soll in Ayodhya stehen: Moschee oder Tempel? Es ist eine Grundsatzfrage, die sich dahinter verbirgt und uns Menschen durchs Leben begleitet. Schon im Sandkasten streiten sich die Kleinen um die Schaufel, nur einer kann sie haben. Der Zorn und die Tränen werden nicht weniger, nur weil man älter wird. Erwachsene Menschen entdecken gleichzeitig einen Parkplatz, pöbeln sich an, gehen aufeinander los. Der Klügere gibt nach, könnte man vorsichtig anregen, aber spätestens, wenn die Aufregung politisch nutzbar wird – ob in Ayodhya, Jerusalem, Juba oder lange Zeit auch in Belfast –, ist es mit der Klugheit vorbei. Warum den Zorn besänftigen, wenn man ihn ausschlachten kann?

Am vergangenen Wochenende musste der Oberste Gerichtshof Indiens darüber entscheiden, wer die Schaufel im Sandkasten bekommt. Das Land hielt den Atem an, Sicherheitskräfte machten mobil. Die Hindus sollen ihren Tempel haben, entschieden die Richter, womit ein Gewaltausbruch durch die Bevölkerungsmehrheit abgewendet ist. Doch auch das Unrecht an den Muslimen wird anerkannt: Die Zerstörung der Moschee war ein Rechtsbruch, und den Gläubigen muss Land gegeben werden, um sie anderswo in der Stadt wieder zu errichten. Unter Muslimen herrscht nun die Sorge, das Urteil werde den Hindu-Nationalisten Auftrieb geben, während sie selbst als Bürger zweiter Klasse enden könnten. Aber Demonstrationen, Wut und Gewalt blieben aus. Das lässt hoffen – nicht nur für Indien. Wenn die Liste der blutig umkämpften Orte um einen Namen kürzer wird, ist die Menschheit womöglich ein bisschen reifer geworden. Und klüger als damals im Sandkasten.

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WAS STEHT AN?

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Seit mehr als zwei Jahren schreibe ich nun den Tagesanbruch für Sie, und meine Zweifel nehmen zu. Ich habe den Eindruck: Was da in Berlin, Washington, London und den anderen mächtigen Hauptstädten geschieht, ist nur ein kleiner Ausschnitt der Zeitläufte, und wir neigen dazu, ihn zu wichtig zu nehmen. In anderen Weltregionen geschehen viel gravierendere Entwicklungen, aber kaum jemand berichtet darüber.

Deshalb sitze ich jetzt gerade, während Sie bei einer Tasse Kaffee oder auf dem Weg zur Arbeit meine Zeilen lesen, in einem Flugzeug auf dem Weg in den Südsudan. Der jüngste Staat der Erde ist zugleich auch der ärmste. Unfassbare Katastrophen haben sich dort in den vergangenen Jahren zugetragen. Erst tobte ein Sezessionskrieg gegen den Sudan. Dann, nach der Unabhängigkeit im Jahr 2011, brach ein Bürgerkrieg zwischen den verfeindeten Milizen von Staatspräsident Salva Kiir Mayardit und seinem ehemaligen Stellvertreter Riek Machar aus. Beide wollten sich die Dollars aus dem Ölgeschäft unter den Nagel reißen, also hetzten sie ihre Todesschwadronen aufeinander, die sich bald darauf verlegten, Zivilisten zu ermorden, Frauen zu vergewaltigen, Dörfer anzuzünden und Ernten zu vernichten.

Schätzungsweise 400.000 Menschen kamen ums Leben, Hunderttausende flohen in die Nachbarländer. Straßen, Felder, Geschäfte wurden zerstört, Dürren und zuletzt heftige Überschwemmungen verschärften die Lage, bis zu sechseinhalb Millionen Menschen leiden Hunger. Es ist die größte Katastrophe in Afrika seit dem Genozid in Ruanda 1994.

Das ist die Lage, in der die internationale Gemeinschaft den Druck auf die beiden Kontrahenten Kiir und Machar so stark erhöht hat, dass sie vor einem Jahr Frieden schlossen. Bis kommenden Dienstag sollten sie eigentlich eine Einheitsregierung bilden, aber sie konnten sich nicht dazu durchraufen und schieben einander die Schuld zu. Nun haben sie weitere 100 Tage Zeit. Knackpunkt ist die Frage, wer die ölreichen Provinzen beherrschen darf.


Das ist die politische Dimension. Die menschliche ist noch viel tragischer. Unter den Millionen Südsudanesen, die zu wenig zu essen haben, sind auch viele Kinder; 860.000 von ihnen leiden an Unterernährung. Aber es gibt Organisationen, die den Menschen vor Ort helfen. Unicef, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, ist eine dieser Organisationen. Sie betreibt mehrere Ernährungszentren im Land und versorgt die hungernden Kinder mit Spezialmilch und Erdnusspaste. Liest man solche Sätze, vermag man sich kaum vorzustellen, was sie wirklich bedeuten. Wir sollten das aber verstehen. Deshalb werde ich den Tagesanbruch diese Woche aus dem Südsudan schreiben. Um ihnen zu berichten, was im ärmsten Land der Welt vor sich geht.


Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping geht heute auf Shoppingtour. Mit prallem Geldbeutel besucht er in Athen Premierminister Kyriakos Mitsotakis. Den griechischen Hafen Piräus haben die Chinesen bereits gepachtet; als Stützpunkt auf ihrer Neuen Seidenstraße wollen sie ihn zum größten Hafen Europas ausbauen. Auch nach anderen Staatsbetrieben in dem hoch verschuldeten EU-Land strecken die turbokapitalistischen Staatskommunisten die Hand aus. Im Unterschied zur Europäischen Union haben sie eine globale Entwicklungsstrategie, an der sie alle politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten ausrichten. Merke: Mit Plan schlägt ohne Plan.


Bundeskanzlerin Merkel besucht heute in Rom den italienischen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte. Im Unterschied zu Herrn Xi hat sie nicht viel mehr im Gepäck als Ermahnungen: Italien soll bitte stabil bleiben, damit nicht noch mehr deutsches Geld in das große europäische Schuldenloch fällt. Ein schöner Wunsch, aber nicht wirklich ein Plan.


In Berlin trifft sich das SPD-Präsidium und setzt eine Arbeitsgruppe ein. Sie soll auf dem Parteitag Anfang Dezember eine Empfehlung abgeben, wie die Halbzeitbilanz der großen Koalition zu bewerten ist. Da der Grundrente-Kompromiss ja nun steht, dürfte es den regierenden Spitzengenossen leichter fallen, die Groko-Kritiker um Kevin Kühnert kleinzuhalten.


In den Niederlanden tobt ein sonderbarer Streit um den "Schwarzen Piet": Bei dem offiziellen Einzug des niederländischen "Sinterklaas" (Nikolaus) am kommenden Samstag in Apeldoorn sollen erstmals keine schwarz geschminkten Darsteller mehr dabei sein, sondern nur noch Pieten mit einzelnen schwarzen Rußflecken im Gesicht. Grund: Der traditionelle Nikolaus-Begleiter wird von vielen Menschen als rassistisch empfunden – andere verteidigen ihn dagegen. Es kam sogar schon zu Ausschreitungen.

Sicher, viele Lieder, Spiele und Kostüme im europäischen Brauchtum beruhen auf einem überkommenen Weltbild. Aber muss man wirklich jede kulturelle Tradition weißwaschen? Manchmal frage ich mich, wie weit wir es mit der politischen Korrektheit eigentlich noch treiben wollen.


Apropos Brauchtum: Im Rheinland beginnt um 11.11 Uhr die Karnevalssaison. In Düsseldorf erwacht der Obernarr Hoppeditz, in Köln präsentiert sich ein neues Dreigestirn. Tausende wollen auf den Straßen feiern, womöglich auch einige mit geschminkten Gesichtern. Ob rot, blau, gelb oder schwarz: Ist das wirklich wichtig?


DIE GUTE NACHRICHT


WAS LESEN UND ANSCHAUEN?

30 Jahre Mauerfall: Der friedliche Sturz einer Diktatur durch die Massen könnte eigentlich das Selbstverständnis unserer Nation prägen. In Deutschland ist das anders. Woran liegt das? Unser Parlamentsreporter Jonas Schaible hat das Phänomen ergründet.


Oh, die ältesten bekannten Rezepte der Welt sind entziffert worden! Klingen lecker.


WAS BEEINDRUCKT MICH?

Haben Sie sich mal überlegt, wie das aussähe, würden wir alle öfter den Bus nehmen? So toll sähe das aus (bitte auf die einzelnen Bilder klicken)!

Ich wünsche Ihnen einen ersprießlichen Wochenbeginn. Herzliche Grüße

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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