Bahnchef Lutz "Wir müssen jetzt radikal umsteuern"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Noch nie war die Bahn so unpünktlich wie im vergangenen Jahr. Und bis sich die Situation deutlich verbessert, könnte es lange dauern, warnt Bahnchef Richard Lutz.
Kein Konzernlenker steht so im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses wie der Bahnchef. Eigentlich. Denn Richard Lutz kennen auch sechs Jahr nach seinem Amtsantritt nur die wenigsten. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern Rüdiger Grube und Hartmut Mehdorn sucht er nicht die große Bühne, sondern arbeitet lieber im Hintergrund.
Aber auch das stille Herumdoktern an den großen Problemen hat die Lage der Bahn zuletzt nicht verbessert. Im Gegenteil: Vergangenes Jahr waren die Fernzüge so unzuverlässig wie noch nie. Woran das liegt und wann es – vielleicht – wieder besser wird, erklärt Lutz im Interview.
t-online: Herr Lutz, wundern Sie sich eigentlich manchmal selbst, dass Sie noch Bahnchef sind?
Richard Lutz: Diese Frage stelle ich mir nicht.
Wirklich nicht?
Nein. Mir macht es Spaß, Dinge zu bewegen. Ich bin seit fast 30 Jahren bei der Bahn und habe die Arbeit hier immer als sehr sinnstiftend empfunden. Das gilt in Zeiten wie diesen mehr denn je.
Ernsthaft? Die Probleme bei der Bahn sind so groß wie nie zuvor. Und Sie sind doch für die aktuelle Lage mitverantwortlich.
Wir haben eine zu volle, zu alte und zu störanfällige Infrastruktur. Der Verkehr auf der Schiene hat stark zugenommen, das Schienennetz ist aber nicht mitgewachsen, sondern geschrumpft. Das führt in bestimmten Teilen des Netzes zu Engpässen, Staus und massiven Verspätungen. Mittlerweile ist doch allen klar: Wir können so nicht weitermachen. Und dass in die Schieneninfrastruktur bislang nicht ausreichend investiert wurde, ist kein Geheimnis.
Die Probleme der Infrastruktur reichen Jahre zurück. Warum ist das System erst 2022 so unter Druck geraten?
In der Corona-Pandemie gab es weniger Zugverkehr. Und in den Jahren davor ging es immer noch irgendwie gut. Jetzt aber funktioniert es nicht mehr. Wir sind an der Kapazitätsgrenze, und an vielen Stellen auch schon jenseits davon.
Noch mal: Das wissen Sie doch nicht erst seit gestern.
Natürlich wussten wir schon früher, dass wir dem Verkehrswachstum hinterherbauen werden und dass dies zu Engpässen führen wird. Aber dass das System so früh in einen so kritischen Bereich kommen würde, wurde erst im vergangenen Jahr so richtig deutlich. Das haben wir unterschätzt, das muss man selbstkritisch sagen. Aber wenn wir es wissen, dann gilt doch umso mehr: Wir müssen jetzt radikal umsteuern. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes höchste Eisenbahn.
Die Pünktlichkeit von ICs und ICEs lag im vergangenen Jahr bei 65 Prozent – und damit auf einem historischen Tiefpunkt. Wie oft haben Sie einen Termin verpasst, weil Ihr Konzern Sie im Stich gelassen hat?
Tatsächlich keinen einzigen. Das lag aber auch daran, dass ich die hoch belasteten Streckenbereiche und die davon betroffenen Verbindungen ganz gut kenne und ich mir entsprechende Zeitpuffer eingebaut habe. Auch ich habe in Einzelfällen Anschlusszüge verpasst und bin mit einer Verspätung von einer Stunde oder mehr angekommen. Das ist auch das, was die Fahrgäste zu Recht am meisten ärgert. Nicht die zehn Minuten Verspätung, die ein Fernverkehrszug derzeit im Durchschnitt verspätet ist.
Das klingt fast wie eine Kapitulation: Ohne Puffer sollte niemand eine Bahnfahrt antreten?
So ist es ja nun auch wieder nicht. Die meisten Reisenden im Nah- und Fernverkehr bringen wir pünktlich ans Ziel. Und egal ob mit dem Auto, mit dem Flugzeug oder eben mit der Bahn: Wer lange Strecken zurücklegt, der baut doch immer einen Puffer ein. Ich kenne niemanden, der das nicht macht. Aber natürlich ist es wichtig, dass unsere Fahrgäste jederzeit erfahren, wann und wo die Verspätungsrisiken besonders groß sind.
Das Chaos auf der Schiene ist für Sie auch kostspielig: Wie viele Entschädigungen an Ihre Kunden mussten Sie 2022 für Verspätungen zahlen?
Die genaue Summe haben wir noch nicht. Aber ich erwarte, dass sie erheblich angestiegen ist. Das lag aber nicht nur an den Verspätungen, sondern auch daran, dass wir deutlich mehr Fahrgäste hatten als im Vorjahr – und daran, dass wir es unseren Kunden leichter gemacht haben, diese Zahlungen über die DB-App zu beantragen.
Wie haben sich die Fahrgastzahlen denn entwickelt?
Im Fernverkehr ist die Zahl vergangenes Jahr signifikant auf deutlich über 100 Millionen Fahrgäste gestiegen – 2021 waren es noch gut 80 Millionen. Die Menschen sind nach Auslaufen der Corona-Beschränkungen ab dem 2. Quartal 2022 mehr denn je Bahn gefahren.
Klingt so, als hätte die Bahn nach den Corona-Jahren wieder gut verdient.
In der Tat. 2022 haben wir wieder schwarze Zahlen geschrieben und klar über 1 Milliarde Euro operativen Gewinn (EBIT) erzielt.
Und womit rechnen Sie für 2023?
Die Nachfrage nach klimafreundlicher Mobilität ist ungebrochen. Im Fernverkehr könnte es 2023 sogar eine neue Rekordzahl geben. Beim Regionalverkehr kommt es darauf an, wie schnell das Deutschlandticket kommt. Das wird einen starken Impuls geben, Busse und Bahnen auch im Nahverkehr zu nutzen.
Richard Lutz, Jahrgang 1964, ist seit März 2017 Chef der Deutschen Bahn und entstammt einer Eisenbahnerfamilie: Sein Vater arbeitete in einem Ausbesserungswerk der Bundesbahn, seine Mutter war als Sekretärin angestellt. Lutz selbst kam 1994 zur Bahn, stieg schnell auf, leitete bald das Controlling und wurde 2010 Teil des Unternehmensvorstands, wo er später auf den Posten seines Vorgängers Rüdiger Grube rückte. Lutz ist leidenschaftlicher Schachspieler, verheiratet und hat drei Kinder.
Wann sollte das 49-Euro-Ticket denn idealerweise eingeführt werden?
Das muss am Ende die Politik in Bund, Ländern und Kommunen entscheiden. Aus unserer Sicht je schneller, desto besser. Wir sind startklar!
Durch das Ticket dürfte es noch voller in den Zügen werden, am Ende werden wohl noch mehr von ihnen über die Schienen rollen – womit wir wieder beim Zustand der Infrastruktur wären. Warum verspätet sich ein Zug auf alten Gleisen eher als auf neuen?
Es geht ja nicht nur um die Gleise, sondern um die Signale, die Weichen, die Stellwerke – all das ist an vielen Stellen in die Jahre gekommen und störanfällig. Wenn es dann zu Ausfällen einzelner Komponenten kommt, steht die Infrastruktur nicht zur Verfügung und wir müssen die Kapazität durch Baustellen zusätzlich einschränken. Dadurch kommt es zu Engpässen, Staus und Verspätungen. Bei der Straße ist das übrigens nicht anders. Da müssen wir jetzt ran und gehen die Generalsanierungen ganzer Strecken an. Zumal es ein spezifisch deutsches Problem gibt.
Und zwar?
Wir haben sehr viel Mischverkehr, also Fern-, Nah- und Güterverkehr auf der gleichen Infrastruktur. Und außerdem noch sehr lange Zugläufe mit vielen Halten. Das macht das gesamte Verkehrsgeschehen auf einer zu vollen Infrastruktur besonders anfällig. Ein Beispiel: Ein ICE startet auch schon mal in Hamburg und fährt über das Ruhrgebiet bis in den Süden. Wenn dieser Zug sich irgendwo eine Verspätung einfängt, infiziert er auf seiner Hunderte Kilometer dauernden Fahrt viele andere Züge. Er ist dann in Sachen Unpünktlichkeit so eine Art Superspreader.
Und die Generalsanierung macht gegen Superspreader immun?
Sie reduziert die Anfälligkeit der Strecken und die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Verspätungen kommt. Wir sanieren ja vor allem die Strecken, über die besonders viel Verkehr abgewickelt wird.
Was unterscheidet die Generalsanierung vom bisherigen Vorgehen?
Bislang haben wir die verschiedenen Komponenten einzeln erneuert, wenn sie ihr technisches Lebensende erreicht haben – hier mal eine Weiche, dort mal einen Bahnübergang. Dadurch haben wir die gleiche Strecke immer wieder gesperrt. Bei der Generalsanierung sperren wir einzelne Strecken komplett und modernisieren alles in einem Rutsch. Danach ist die Strecke für viele Jahre frei von Baustellen, deutlich weniger störanfällig und es können darauf mehr Züge bei höherer Betriebsqualität fahren. Im nächsten Jahr fangen wir mit der Strecke von Frankfurt nach Mannheim an. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren.
Es gibt allerdings auch weitaus komplexere Korridore, etwa zwischen Köln und Dortmund. Wie saniert man die?
Wir wollen bis 2030 die hochbelasteten Korridore generalsanieren. Bislang stehen drei fest: neben Frankfurt–Mannheim noch Hamburg–Berlin und Emmerich–Oberhausen. Den weiteren Fahrplan bis 2030 besprechen wir gerade mit der Politik und der Branche.
Sie sind seit 1994 bei der Bahn, haben also schon einiges erlebt. Dazu gehört, dass der Bahnchef alle paar Jahre erklärt, jetzt komme der große Durchbruch. Nun gilt die Generalsanierung als der neue Stein der Weisen. Was macht Sie so zuversichtlich, dass es dieses Mal tatsächlich hilft?
Weil jetzt alle an einem Strang ziehen. Die Generalsanierung ist der zentrale Hebel, wie wir die Probleme in unserer Infrastruktur lösen können. Sie funktioniert an ganz vielen Stellen, wenn natürlich auch nicht überall. Wir haben das Thema auch früher immer mal wieder diskutiert, aber ich gebe zu: Da gab es intern bei uns und damals auch in der Politik und bei den Aufgabenträgern Widerstände. Totalsperrung von Strecken war bei allen als Teufelszeug verschrien. Das Jahr 2022 hat dazu geführt, dass wir Bahner mit uns ins Reine gekommen sind, aber eben auch mit der Politik und der Branche. Alle haben gesehen: So darf es auf keinen Fall weitergehen. Wir müssen radikal umsteuern.
Die Dinge bessern sich erst, wenn es sonst gar nicht mehr geht?
Manchmal ist es so: Alle müssen spüren, dass man mit den bisherigen Ansätzen nicht ans Ziel kommt. Deshalb liegt in jeder Krise ja auch eine Chance. Und auch wenn es etwas merkwürdig klingen mag: Das Jahr 2022 hat viel Positives bewirkt. Alle sind sich nun einig, dass nur dieser radikale Ansatz funktioniert.
Das klingt allerdings auch ein wenig so, als wäre das Verhältnis zwischen Politik und Bahn trotz der mehr als schwierigen Lage bestens.
Ich kann nicht klagen.
Aber die Politik nimmt sie enger an die Leine.
Wieso?
Die DB Netz wird in eine gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft umgewandelt. Das ist doch auch der Ausdruck eines Misstrauens seitens der Politik.
Ich sehe das nicht so. Die Bundesregierung hat ambitionierte verkehrs- und klimapolitische Ziele und will deutlich mehr Verkehr über die Schiene abwickeln. Von diesem Ziel bin ich zutiefst überzeugt. Dazu braucht es den Schulterschluss mit der Politik und der gesamten Branche. Und genau das tun wir im Moment: gemeinsam und mit einem klar erkennbaren Gestaltungswillen des Verkehrsministeriums. Das ist gut! Deshalb löst das Wort Gemeinwohlorientierung der Infrastruktur bei mir überhaupt keinen negativen Reflex aus.
Sie befürchten durch die Gründung der Infrastrukturgesellschaft also keine Entmachtung des Konzerns, der zwar seit jeher zu 100 Prozent dem Bund gehört, in der Vergangenheit aber ein ziemliches Eigenleben führte?
Nein. Die Infrastruktursparte bleibt ja Teil eines integrierten Konzerns. Das ist im Koalitionsvertrag eindeutig geregelt. Es geht um die Frage, wie wir die neue Infrastrukturgesellschaft auf Wachstum und Betriebsqualität ausrichten und sie finanziell so ausstatten, dass dies gelingen kann. Wenn alle Beteiligten mehr Transparenz über den aktuellen Zustand der Infrastruktur bekommen und wir uns auch einig sind, in welchen Zielzustand wir sie versetzen wollen und was dafür zu tun ist, begrüße ich das ausdrücklich. Zumal wir mit dem Bund in einer Schicksalsgemeinschaft sind.
Wie meinen Sie das?
Wenn wir die Infrastruktur nicht weiter modernisieren, digitalisieren und ausbauen, kann nicht mehr Verkehr auf die klimafreundliche Schiene verlagert werden. Aber dafür braucht es Investitionen. Und die kosten eben Geld, das zum ganz überwiegenden Teil aus dem Bundeshaushalt kommen muss. Positiv formuliert: Politik, Bahn und Branche können nur erfolgreich sein, wenn sie die Frage gemeinsam beantworten, was es für das Erreichen der Klimaziele braucht. Die Investitionen in Fahrzeuge und Werke sowie das Rekrutieren und Qualifizieren von Mitarbeitenden ist dann Aufgabe von uns und der gesamten Branche.
Klar ist: Es wird deutlich teurer
Richard Lutz
Mit Gemeinwohl lässt sich allerdings auch besonders gut argumentieren, wenn man mehr Geld braucht, zum Beispiel, weil die Baukosten stark gestiegen sind. Wie sehr leiden Sie darunter?
Während der Pandemie hatten wir eine Nachfragekrise, weil unsere Fahrgäste nicht Zug gefahren sind. Das hat sich gedreht. Die Frage, ob die Menschen nach Corona zurückkommen, ist eindeutig mit Ja beantwortet. Nun haben wir allerdings eine Kosten- und Angebotskrise: Die Energiepreise explodieren, die Beschaffung von Material und Investitionen ist schwieriger und teurer geworden und die Zinsen sind drastisch gestiegen. Wir sind nun mal ein Unternehmen, das energie-, beschaffungs-, kapital- und personalintensiv ist.
Das heißt, Sie haben gerade besonders Pech?
Mit Pech hat das nichts zu tun. Mit diesen Krisen kämpfen ja nicht nur wir. Tatsache ist allerdings, dass wir aufgrund unseres Geschäftsmodells in der Mitte des Sturms und überall dabei sind.
Mit welchem Plus bei den Kosten rechnen Sie denn?
Darüber will ich nicht spekulieren. Klar ist aber: Es wird deutlich teurer, selbst wenn wir mengenmäßig nur genauso viel investieren wie bislang. Aber wir wollen ja künftig noch viel mehr investieren, modernisieren und digitalisieren.
Herr Lutz, vielen Dank für dieses Gespräch.
- Interview mit Bahnchef Richard Lutz am 23. Januar 2023 in Berlin