Der Mann und die Milliarden-Bombe
Vor gut einem Jahr entdeckte Hans-Werner Sinn ein gigantisches Risiko in der Bilanz der Deutschen Bundesbank. Seitdem kΓ€mpft der Γkonom dafΓΌr, das Thema ins ΓΆffentliche Bewusstsein zu bringen. Doch das Problem ist zu sperrig fΓΌr eine Talkshow. Sicher ist: Das Risiko steigt weiter.
Tipp vom alten Bundesbank-Chef
Der entscheidende Hinweis kam von jenem Mann, dessen Unterschrift die D-Mark-Scheine zierte: Der ehemalige Bundesbank-Chef Helmut Schlesinger machte den MΓΌnchener Γkonomen Hans-Werner Sinn auf einen seltsamen Posten in der Bundesbankstatistik aufmerksam: Ende 2010 waren dort Forderungen von mehr als 300 Milliarden Euro an andere Notenbanken des Euro-Systems verbucht. Sinn wunderte sich - und begann zu recherchieren. Was er herausfand, ΓΌbertraf seine schlimmsten Erwartungen.
"Am Anfang hatte ich ja auch nur diese Zahl und wusste nicht so recht, was sie bedeutet", erinnert sich Sinn, der als PrΓ€sident das Wirtschaftsforschungsinstitut Ifo fΓΌhrt. "Die Bundesbank sagte mir, das seien irrelevante Salden. Aber das hat mich nicht beruhigt." Er sprach mit Fachleuten bei den verschiedenen Notenbanken und mit Kollegen aus der Wissenschaft. "Jeder wusste ein bisschen was", sagt Sinn, "ich musste mir das Bild zusammenpuzzeln. Das war richtige Detektivarbeit."
500 Milliarden Risiko fΓΌr Deutschland
Nach Wochen hatte Sinn ein Bild zusammengefΓΌgt, das den Betrachter erschauern lΓ€sst: Innerhalb des eigentlich harmlosen Zahlungsystems zwischen den Notenbanken der 17 Euro-LΓ€nder haben sich seit Beginn der Finanzkrise 2007 gewaltige Ungleichgewichte aufgebaut: WΓ€hrend die europΓ€ischen Krisenstaaten Italien, Spanien, Irland, Portugal und Griechenland Defizite von insgesamt mehr als 600 Milliarden Euro aufweisen, sind die Forderungen der Bundesbank mittlerweile auf 498 Milliarden Euro gestiegen.
Solange die WΓ€hrungsunion weiter besteht, ist das noch keine Katastrophe. Das Geld ist virtuell, es wird von den Notenbanken geschaffen, ohne dass es an anderer Stelle fehlt. Doch sobald ein Land austritt oder die Euro-Zone sogar ganz zerfΓ€llt, wird es brenzlig. "Wir sitzen in der Falle", sagt Sinn. "Wenn der Euro zerbrechen sollte, haben wir eine Forderung von fast 500 Milliarden Euro an ein System, das es dann nicht mehr gibt." 500 Milliarden Euro - das ist mehr als das anderthalbfache des Bundeshaushalts und deutlich mehr als alle Risiken, die alle Euro-Staaten zusammen bisher bei der Rettung der WΓ€hrungsunion eingegangen sind.
Eurozone aus den Fugen
So viel steht allerdings nur im schlimmsten Fall auf dem Spiel, etwa wenn der Euro komplett zerbricht. Wesentlich realistischer ist dagegen ein Austritt eines Landes, zum Beispiel Griechenlands. In diesem Fall müssten alle anderen Notenbanken gemeinsam die Schulden der griechischen Notenbank tragen. Die Bundesbank wÀre gemÀà ihrem Anteil an der EuropÀischen Zentralbank (EZB) mit rund 28 Prozent dabei. Bei 108 Milliarden Euro griechischer Verbindlichkeiten wÀren das etwa 30 Milliarden Euro.
Sinn liebt die Provokation. Doch man glaubt ihm, dass er sich in dieser Sache ernsthaft Sorgen macht. Er sitzt in einem Restaurant im Berliner Regierungsviertel. Auf dem Tisch hat er seinen Laptop aufgeklappt. Mit dem unteren Ende seines KaffeelΓΆffels zeichnet er die gelben und blauen Linien nach, die sich ΓΌber den Bildschirm schlΓ€ngeln. Sie sollen zeigen, wie sehr die Euro-Zone aus den Fugen geraten ist. "Das ist gefΓ€hrlich", sagt Sinn, und seine Augen blitzen. Durch die Forderungen an die anderen Notenbanken sei Deutschland erpressbar geworden. "Jeder weiΓ jetzt, dass wir den Euro retten mΓΌssen - und zwar um fast jeden Preis."
Die Γffentlichkeit ignoriert das Risiko
Das klingt dramatisch. Und doch ist es Sinn bisher nicht gelungen, eine breite Γffentlichkeit fΓΌr das Problem zu sensibilisieren. Nur langsam wΓ€chst das Thema aus den wirtschaftswissenschaftlichen Fachzirkeln heraus. In die groΓen seriΓΆsen Zeitungen hat er es zwar geschafft. Doch bis die "Bild"-Zeitung Sinns Entdeckung auf ihre Titelseite hebt, wird es wohl noch ziemlich lange dauern.
Dabei ist Sinn eigentlich alles anderes als zimperlich, wenn es darum geht, sich GehΓΆr zu verschaffen. In Talkshows ist er auch deshalb gern gesehener Gast, weil er griffige Thesen formuliert und markige SprΓΌche klopft. Doch bei diesem Thema funktioniert das einfach nicht. Es ist zu komplex fΓΌr die Talkshow. Hinzu kommt der sperrige Name: Target2 nennt sich das Zahlungsystem zwischen den Notenbanken. Das klingt ungefΓ€hr so spannend wie ein Seminartitel fΓΌr Finanzbuchhalter.
Ausgleich fΓΌr Kapitaltransfers in Europa
Eigentlich sollte das System genau so harmlos sein, wie es klingt. Es sollte dazu dienen, die Zahlungsforderungen zwischen den Notenbanken abzuwickeln, die bei jeder grenzΓΌberschreitenden Γberweisung im Euro-Raum entstehen. Solange die Wirtschaft im Gleichgewicht ist und Waren und Geld in alle Richtungen hin und her flieΓen, gleichen sich die Salden dabei immer wieder aus. Selbst wenn ein Land mal mehr GΓΌter importiert als exportiert, finanziert es diese LΓΌcke in der Regel durch KapitalzuflΓΌsse aus dem Ausland. Auch dann sind die Target-Salden bei oder nahe null - so wie es bis Anfang 2007 der Fall war.
Ein Beispiel: Ein griechisches Unternehmen kauft bei einer deutschen Firma einen Lastwagen. Dazu ΓΌberweist die Hausbank der Firma in Thessaloniki das Geld an die Hausbank in Stuttgart. Weil die Zahlung ΓΌber die Zentralbanken lΓ€uft, entsteht dabei im Target2-System eine Verbindlichkeit der griechischen Notenbank gegenΓΌber der EuropΓ€ischen Zentralbank, umgekehrt erhΓ€lt die Deutsche Bundesbank eine Forderung in gleicher HΓΆhe gegenΓΌber der EZB.
Kapitalflucht aus den PIGS-LΓ€ndern
Der Saldo gleicht sich aus, wenn entweder Geld oder Waren von Deutschland nach Griechenland flieΓen. In den vergangen Jahren war es meistens eher Geld. Die griechische GeschΓ€ftsbank lieh sich das Geld, das sie fΓΌr den Kredit an das griechische Unternehmen brauchte, zum Beispiel bei einer deutschen Bank.
Das ist schon fΓΌr sich genommen ein Problem: Weil LΓ€nder wie Griechenland, Spanien oder Portugal seit Jahren mehr im- als exportieren, waren sie schon vor der Krise auf KapitalzuflΓΌsse aus dem Ausland angewiesen, um die von ihnen gekauften GΓΌter und Dienstleistungen zu bezahlen. Deutschland hingegen erwirtschaftet stetige ExportΓΌberschΓΌsse und muss deshalb Kapital exportieren.
Kredite aus dem Nichts in Athen
Solche Ungleichgewichte sind selbst in besseren Zeiten auf Dauer schwierig. In einer Finanzkrise kΓΆnnen sie sogar zur Katastrophe fΓΌhren, weil die GeldflΓΌsse zwischen den Banken plΓΆtzlich stocken. So geschah es seit 2007:
- Die Banken in allen Euro-Staaten mussten ihr Geld zusammenhalten. Sie zogen sich aus vermeintlich unsicheren LΓ€ndern zurΓΌck. Auslaufende Kredite wurden nicht mehr verlΓ€ngert.
- Hinzu kam die Angst der Reichen: Aus Sorge, ihr Geld kΓΆnnte bald nichts mehr wert sein, schafften sie es erst aus Griechenland, Irland und Portugal heraus, spΓ€ter auch aus Spanien und Italien. Den Banken dort blieben weniger Spareinlagen, die sie als Kredite weiterreichen konnten.
- All das fΓΌhrte dazu, dass in Griechenland und den anderen KrisenlΓ€ndern nicht mehr genΓΌgend Geld da war, um all die Importe zu finanzieren. Wollten griechische Banken weiter Kredite vergeben, um den Kauf zum Beispiel deutscher oder hollΓ€ndischer Produkte zu bezahlen, mussten sie es sich bei ihrer Zentralbank leihen.
- Die Zentralbank wiederum schΓΆpft das Geld einfach aus dem Nichts - und stellt es dem gesamten Euro-System als Target-Forderung in Rechnung. "Diese LΓ€nder ziehen das Geld einfach aus der Druckerpresse", schimpft Sinn.
Darlehen trotz mangelnder Sicherheiten
Mehr noch: Bei den Sicherheiten, die die Zentralbanken fΓΌr ihre Kredite an die Banken verlangen, sind sie immer laxer geworden. Wurden frΓΌher nur Staatsanleihen mit erstklassiger BonitΓ€t akzeptiert, dΓΌrfen mittlerweile auch zweit- und drittklassige Papiere eingereicht werden. Das schlΓ€gt sich auch in den Statistiken nieder: Allein zwischen 2005 und 2010 hat sich das Volumen der notenbankfΓ€higen Sicherheiten von acht auf 14 Billionen Euro erhΓΆht - seitdem dΓΌrfte es weiter gestiegen sein.
Gerade die Banken in KrisenlΓ€ndern, die ohnehin am Tropf ihrer Notenbanken hΓ€ngen, reichen dabei auch noch die schlechtesten Sicherheiten ein. Griechische Finanzinstitute etwa haben vor allem Staatsanleihen ihres Heimatlandes in ihren GeschΓ€ftsbΓΌchern. Auf dem freien Markt will solche Papiere niemand haben, doch die griechische Notenbank akzeptiert sie weiterhin als Sicherheit - und gibt im Gegenzug frisches Geld an die Banken aus. "Der private Geldfluss wird durch ΓΆffentlichen ersetzt", sagt Sinn.
Keiner will auf Sinn hΓΆren
GefΓ€hrlich wird das, wenn die Sicherheiten irgendwann einmal eingesetzt werden mΓΌssen, etwa wenn Griechenland aus der WΓ€hrungsunion austritt und Bankrott anmeldet. Dann sind griechische Anleihen nichts mehr wert - und die Wahrscheinlichkeit, dass die griechische Notenbank ihre Schulden gegenΓΌber dem Euro-System zurΓΌckzahlen kann, ist Γ€uΓerst gering.
Am Anfang hat Sinn viel Kritik fΓΌr seine Thesen einstecken mΓΌssen. In der Fachwelt gab es einen kleinen Aufschrei, als er sie zum ersten Mal ausfΓΌhrlich in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" verΓΆffentlichte - auch, weil nicht alle Gedanken so sauber formuliert waren, wie es im aktuellen Arbeitspapier der Fall ist. Er ΓΌbertreibe und spiele die Risiken kΓΌnstlich hoch, lautete ein Vorwurf von Kollegen. Auch die Bundesbank selbst tat die auseinanderdriftenden Salden zunΓ€chst als mehr oder weniger harmlos ab. Sinn stand ziemlich alleine da.
Jetzt erst stimmt die Fachwelt zu
"Alle dachten: Wenn das nur einer sagt, dann kann es ja nicht stimmen", erinnert sich der Γkonom. Er selbst habe aber nie an seiner Interpretation gezweifelt. Heute ist die Kritik weitgehend verstummt. "Ich habe mich zwei Wochen mit dem Thema beschΓ€ftigt", sagt ein deutscher Wirtschaftsprofessor. Dann habe er festgestellt: "Herr Sinn hat Recht. Die Analyse ist brillant." Andere geben eher zΓ€hneknirschend zu, dass das Risiko hinter den Target-Salden offenbar doch hΓΆher ist als sie anfangs glaubten.
Die EuropΓ€ische Zentralbank bestΓ€tigt Sinns Analyse mittlerweile im Grundsatz, zieht aber zumindest ΓΆffentlich deutlich harmlosere SchlΓΌsse daraus. Dass das Notenbankgeld innerhalb des Euro-Systems so ungleich verteilt ist, fΓΆrdere sogar die StabilitΓ€t, da so finanziell solide Banken auch "in LΓ€ndern mit finanziellen Spannungen" ihren LiquiditΓ€tsbedarf decken kΓΆnnten.
Das klingt allerdings nur beim ersten HinhΓΆren beruhigend. Denn es heiΓt im Klartext: In den europΓ€ischen KrisenlΓ€ndern sind die GeschΓ€ftsbanken auf das Geld ihrer Notenbanken angewiesen, weil sie sonst keines mehr bekommen.
Sinn fordert strengere Regeln
Welche Chance hat ein PhΓ€nomen, bei dem selbst Volkswirtschaftsprofessoren zwei Wochen zum Begreifen brauchen, jemals in einer Talkshow-Demokratie zum Thema zu werden? Doch nur weil ein Problem komplex ist, wird es nicht automatisch weniger wichtig.
Ebenso schwer fΓ€llt eine Antwort darauf, wie sich das Risiko wieder reduzieren lΓ€sst, ohne dabei die Euro-Zone ins Chaos zu stΓΌrzen. Denn genau das wΓΌrde passieren, wenn man die Notenbanken der KrisenlΓ€nder von heute auf morgen zwingen wΓΌrde, ihre Schulden zu bezahlen. Sinn plΓ€diert dafΓΌr, die Anforderungen an die Sicherheiten zu erhΓΆhen, mit denen sich die Banken das Geld bei den Notenbanken leihen. Mittelfristig kΓΆnne man die Notenbanken dann zwingen, ihre Verbindlichkeiten regelmΓ€Γig mit werthaltigen Papieren zu begleichen, Γ€hnlich wie es im US-System der Notenbank Federal Reserve ΓΌblich ist.
Eine andere MΓΆglichkeit, das Risiko der Notenbanken zu reduzieren, wΓ€re eine Verlagerung der Hilfen von der Geldpolitik auf die Fiskalpolitik: zum Beispiel durch die EinfΓΌhrung von Euro-Bonds. Doch davon will Sinn lieber nichts wissen. Er plΓ€diert fΓΌr hΓ€rtere Methoden: "Die Regeln mΓΌssen strenger werden", sagt er. "Und wer es nicht schafft, sie einzuhalten, gehΓΆrt nicht in die Euro-Zone." Da ist er wieder: Sinn, der Provokateur.