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Brexit: Das würde ein No-Deal-Austritt aus der EU bedeuten


Drama um EU-Austritt
Zölle, Staus, Engpässe: Diese Folgen hätte ein No-Deal-Brexit

Von dpa, cho

Aktualisiert am 13.12.2020Lesedauer: 8 Min.
Lastwagen stehen vor dem Hafen von Dover (Archivbild): Ob mit Deal oder ohne – nach dem Brexit dürfte es an den Grenzen kilometerlange Staus geben.Vergrößern des BildesLastwagen stehen vor dem Hafen von Dover (Archivbild): Ob mit Deal oder ohne – nach dem Brexit dürfte es an den Grenzen kilometerlange Staus geben. (Quelle: Gareth Fuller/PA Wire/dpa)

Zum Jahreswechsel enden die Übergangsregelungen für die Beziehungen zwischen EU und Großbritannien nach dem Brexit. Gibt es bis dahin keinen neuen Vertrag, kommt es zum harten Bruch. Womit wäre bei einem No Deal zu rechnen? Ein Überblick.

Brexit und kein Ende: Großbritannien und die EU haben sich noch nicht über ihre künftigen Handelsbeziehungen einigen können. Am 31. Dezember läuft die Übergangsfrist aus, dann gelten die bisherigen Regeln nicht mehr. Ist bis dahin keine Einigung auf einen Handelsdeal erzielt, kommt es zum harten Brexit und es drohen dramatische wirtschaftliche Verwerfungen auf beiden Seiten.

Kommt der ungeregelte Austritt, drohen Tausende Regelungen für Handel und Verkehr zwischen Großbritannien und der Europäischen Union (EU) ungültig zu werden. Davon wären zahlreiche Bereiche in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft betroffen. Aber auch wenn es noch zu einem Deal kommt, hat der Brexit Folgen. Ein Überblick.

Warenhandel

Ohne Deal müssen beide Seiten den Warenhandel nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO abwickeln. Das bedeutet teils hohe Zölle auf bestimmte Güter wie Autos (10 Prozent) und vor allem Agrargüter. Für gefrorenes Rindfleisch würden beispielsweise Zölle von knapp 90 Prozent anfallen, für Käse wären es knapp 50 Prozent.

Für Landwirte und Unternehmen könnte das den grenzüberschreitenden Handel unrentabel machen, beispielsweise für Schafhirten in Wales, die den größten Teil ihrer Produkte in die EU exportieren. Für Verbraucher würden höhere Preise anfallen.

Handel zwischen Deutschland und UK sinkt bereits seit Referendum

Selbst im Fall eines Deals wird es sogenannte nicht-tarifäre Handelshemmnisse geben. Britische Unternehmen müssen für ihre Exporte aufwendig nachweisen, dass sie den Regeln des EU-Binnenmarkts entsprechen. Bei zusammengesetzten Produkten muss die Herkunft der Bestandteile belegt werden, um in den Genuss von Zollfreiheit zu kommen.

Zum Schutz von Herkunftsbezeichnungen (zum Beispiel Champagner), Bio-Zertifikaten und vor der Einschleppung von Tier- und Pflanzenseuchen werden Checks vorgenommen werden müssen.

Mathias Dubbert, Referatsleiter Europapolitik des deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK), gibt allerdings zu bedenken, dass sich der Außenhandel zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich in den vergangenen vier Jahren bereits verringert habe.

"Im Jahr des Brexit-Referendums war das Vereinigte Königreich noch Deutschlands fünftwichtigster Handelspartner, inzwischen liegt es nur noch auf Platz acht." Das sei bereits eine Folge des befürchteten Chaos.

Studie: Brexit wird UK härter treffen als die EU

Nach einer Auswertung des Münchner Ifo-Instituts wird der Brexit Großbritannien und Nordirland zudem härter treffen als die EU, weil das Vereinigte Königreich einen viel größeren Teil seines Handels mit EU-Ländern abwickele als umgekehrt. 2019 habe Großbritannien 50 Prozent seiner Importe und 47 Prozent seiner Exporte mit der EU abgewickelt, wohingegen nur 4 Prozent der EU-Exporte ins Vereinigte Königreich gegangen und nur 6 Prozent von dort gekommen seien.

Die Ifo-Forscher haben zudem herausgefunden, dass Deutschland nur neun Güter ausschließlich aus Großbritannien bezieht. Ihr Anteil am Wert der deutschen Gesamtimporte in Euro beträgt demnach weniger als 0,001 Prozent.

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Bei diesen Gütern handelt es sich um organische chemische Erzeugnisse, tierische und pflanzliche Fette und Öle sowie Erzeugnisse zu fotografischen oder filmischen Zwecken sowie für Kernreaktoren, Kessel-Maschinen, Apparate und mechanische Geräte. Umgekehrt importiert die Insel 53 Güter ausschließlich aus Deutschland, der überwiegende Teil sind chemische Erzeugnisse.

Staus an den Grenzen

Die britische Regierung will etwaige Zollkontrollen erst stufenweise einführen. Von EU-Seite wird ab dem 1. Januar gecheckt. Das bedeutet Wartezeiten und vermutlich kilometerlange Staus im Hinterland des Fährterminals in Dover und der Einfahrt in den Eurotunnel in Folkestone.

Verderbliche Lebensmittel und pharmazeutische Produkte könnten feststecken und im Regal fehlen, ebenso wie Teile für die Industrieproduktion. Auch mit Deal wird mit einem Verkehrschaos gerechnet, weil zusätzliche Formalitäten anfallen.

Einem Bericht des "Observer" zufolge plant die britische Regierung nun sogar, den kürzlich in dem Land zugelassenen Corona-Impfstoff des Mainzer Unternehmens Biontech und seines US-Partners Pfizer mit Militärflugzeugen einzufliegen. Damit soll verhindert werden, dass das ersehnte Mittel den Staus zum Opfer fällt.

Energie

Die Energieversorgung in Großbritannien dürfte weniger zuverlässig und teurer werden, wenn das Land nicht mehr Teil des gemeinsamen Energiemarkts sein wird. Das scheint selbst im Falle eines Deals wahrscheinlich.

Damit wird beispielsweise bei Knappheit oder Überschuss in der Elektrizitätsproduktion der Austausch mit anderen Ländern erschwert. Der Denkfabrik UK in a Changing Europe zufolge sagen Experten zusätzliche Kosten von 240 bis 260 Millionen Pfund (rund 264 bis 286 Millionen Euro) für Großbritannien im Jahr voraus, Tendenz steigend.

Dienstleistungen

Für die Dienstleistungsbranche entstehen mit dem Brexit große Hürden, ob Deal oder No Deal. Das liegt daran, dass etwa bei Finanzdienstleistungen sogenannte Passporting-Rechte verloren gehen, die bislang den Zugang zum Binnenmarkt ermöglichen.

80 Prozent der britischen Bruttowertschöpfung entstehen im Dienstleistungssektor. Viele britische und in Großbritannien ansässige Banken haben bereits unabhängige Tochterfirmen in Frankfurt, Paris, Madrid oder Dublin gegründet.

Die britischen Finanzdienstleister hoffen nun auf die Anerkennung der Gleichwertigkeit der britischen Regulierungssysteme durch die EU. Die sogenannte Äquivalenz geht allerdings nicht so weit wie das Passporting-System und kann relativ kurzfristig einseitig wieder zurückgenommen werden. Für Anwälte, Architekten und andere Berufsgruppen könnte die fehlende Anerkennung von beruflichen Abschlüssen ein Problem werden. Hier muss sich Großbritannien in bilateralen Abkommen mit den einzelnen EU-Mitgliedstaaten einigen.

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In Deutschland gingen nach Angaben der Bundesbank 64 Lizenzanträge von Kreditinstituten, Wertpapierfirmen und Finanzdienstleistern ein. Die vom Volumen her 40 größten davon seien erfolgreich beschieden worden, die restlichen noch in Bearbeitung.

Die Institute, die neu nach Deutschland kommen oder ihr Geschäft hierzulande erweitern, wollen nach eigenen Angaben zum 1. Januar 2021 Geschäfte im Volumen von rund 675 Milliarden Euro nach Deutschland verlagern. Bis zu 2.500 Bankenjobs dürften im Zuge des Brexits in Deutschland entstehen – vor allem am Finanzplatz Frankfurt.

Daten

Auch hier ist eine Entscheidung über die Gleichwertigkeit der Regeln nötig. Da Großbritannien bei seinem EU-Austritt die Charta der Grundrechte der EU nicht übernommen hat, genießen die Bürger im Vereinigten Königreich künftig nicht mehr den gleichen Schutz ihrer Daten wie in der EU. Auch Abkommen mit Drittländern könnten die Anerkennung des britischen Datenschutzes als gleichwertig in Gefahr bringen.

Der Branchenverband Bitkom, der deutsche Unternehmen aus der Digitalwirtschaft vertritt, warnte kürzlich, ohne eine Entscheidung drohten Datenstaus, deren Auswirkungen "viel größer als die Lkw-Schlangen an der Grenze" seien.

Fischerei

Fischerei macht nur etwa 0,12 Prozent des britischen Bruttoinlandsprodukts aus. Trotzdem hat sie enorme Symbolkraft. Für die Briten ist es eine Frage der Souveränität, ein "unabhängiger Küstenstaat" zu sein, wie die Regierung in London oft betont. Im Fall eines No Deals könnten EU-Kutter von den reichen britischen Fischgründen weitgehend ausgesperrt werden. Doch könnten britische Fischer Schwierigkeiten haben, ihren Fang in die EU zu exportieren, wenn dort Zölle anfallen und Verzögerungen im Warenverkehr entstehen.

Im schlimmsten Fall könnte es zu Blockaden von Häfen durch wütende französische und niederländische Fischer kommen oder zu Scharmützeln zwischen Fischerbooten auf See. Es wäre nicht das erste Mal.

Die EU-Kommission schlägt für den Fall eines No Deals zunächst einen Rechtsrahmen vor, der bis 31. Dezember 2021 gelten soll – oder bis zu einem Fischereiabkommen mit Großbritannien. Die Vereinbarung soll den Zugang britischer Fischkutter in EU-Gewässer regeln und umgekehrt.

Luftfahrt

Die EU-Kommission will gemäß ihren Notfallplänen bestimmte Flugverbindungen zwischen Großbritannien und der EU für sechs Monate aufrechterhalten – vorausgesetzt, London tut dasselbe. Für Flugzeuge sollen übergangsweise Sicherheitszertifikate weiter anerkannt werden, damit sie in der EU nicht stillgelegt werden müssen. Ähnliche gegenseitige Erlaubnisse soll es sechs Monate lang auch für Frachttransporte und den Busverkehr geben, wenn es nach der EU geht.

Grundsätzlich würden Betriebsgenehmigungen, die vom Vereinigten Königreich ausgestellt wurden, nach dem Brexit nicht mehr in der EU gelten. Genehmigungen der EU gibt es aber nur, wenn Airlines ihren Hauptgeschäftssitz in einem EU-Mitgliedstaat haben oder deren Angehörige zu mehr als 50 Prozent am Eigentum beteiligt sind und die tatsächliche Kontrolle über das Unternehmen ausüben.

Die Airline Easyjet plant deshalb beispielsweise, im Notfall die Stimmrechte von Aktionären aus Großbritannien sowie anderen Ländern außerhalb der EU, der Schweiz, Norwegens, Islands und Liechtensteins zu beschneiden. Dies soll sicherstellen, dass Easyjet mehrheitlich von EU-Aktionären kontrolliert wird und damit keine wichtigen Verkehrsrechte verliert.

Tourismus

Für Reisende aus der EU ändert sich zunächst einmal nichts. Doch vom 1. Oktober 2021 an ist die Einreise in das Vereinigte Königreich nur noch mit einem Reisepass und nicht mehr mit einem Personalausweis möglich. Ein Visum ist für Reisen und Besuche mit Aufenthalt bis zu sechs Monaten weiter nicht nötig.

Die britische Regierung will aber – ähnlich dem Esta-Verfahren in den USA – bis 2025 stufenweise ein elektronisches Anmeldeverfahren einführen. Umgekehrt ändern sich auch für Britinnen und Briten die Regeln bei der Einreise in die EU. Sie dürfen von 2021 an bis zu 90 Tage in einem Zeitraum von 180 Tagen ohne Visum in der Gemeinschaft urlauben und reisen.

Noch nicht entschieden ist, ob für Fahrten in der EU beziehungsweise in Großbritannien künftig ein internationaler Führerschein notwendig ist. Die europäische Versichertenkarte EHIC wird künftig nicht mehr gelten. Das bedeutet: Reisende müssen sich selbst versichern.

Leben und Arbeiten

Für EU-Bürger, die bereits in Großbritannien leben, ändert sich zunächst kaum etwas. Ihnen hat die britische Regierung im bereits gültigen EU-Austrittsvertrag ein Bleiberecht unter gleichen Bedingungen wie bisher zugesichert, solange sie sich rechtzeitig registrieren.

Doch die Zeiten, in denen man als Deutscher beispielsweise ohne Weiteres nach Großbritannien übersiedeln konnte, sind nach dem 31. Dezember definitiv vorbei. Künftig gilt dort ein punktebasiertes Einwanderungssystem. Die EU-Staaten regeln das Bleiberecht der Briten auf ihrem Staatsgebiet einzeln.

Polizei und Justiz

Ein Ausscheiden ohne Abkommen würde für die Polizeizusammenarbeit einen großen Rückschlag bedeuten. Der Europäische Haftbefehl, der eine unkomplizierte Auslieferung von Straftätern und Verdächtigen ermöglicht, wird mit oder ohne Deal in Großbritannien nicht mehr gelten. Auch für den gegenseitigen Zugang zu Datenbanken über Straftäter, Fluggastlisten und Ähnliches steht eine Entscheidung noch aus.

Nordirland

Für die ehemalige Bürgerkriegsprovinz Nordirland wurden bereits im Austrittsabkommen 2019 Sonderregeln vereinbart, die eine harte Grenze zum EU-Mitglied Irland verhindern sollen. Sonst könnte der Nordirland-Konflikt zwischen katholischen Befürwortern einer Vereinigung der beiden Teile Irlands und den überwiegend protestantischen Anhängern der Union mit Großbritannien wieder aufflammen.

Nach dem Brexit-Vertrag soll Nordirland de facto weiter den Regeln der europäischen Zollunion und des Binnenmarkts folgen. Damit werden jedoch Kontrollen beim Warenverkehr zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs notwendig. Die britische Regierung wollte dies mit einem Gesetzentwurf teilweise aushebeln, was in Brüssel für Empörung sorgte.

Nun sagte London aber zu, die entsprechenden Klauseln zurückzuziehen. Beide Seiten einigten sich diese Woche auf Regeln für die konkreten Abläufe in Nordirland und Irland – auch für den Fall eines No Deal.

Schottland

In Schottland hat der Brexit die Abspaltungstendenzen noch einmal verstärkt. Anders als in England und Wales stimmte eine Mehrheit der Schotten bei der Volksabstimmung 2016 für die weitere EU-Mitgliedschaft Großbritanniens.

Regierungschefin Nicola Sturgeon von der Schottischen Nationalpartei (SNP) fordert ein zweites Unabhängigkeitsreferendum, nachdem eine Volksabstimmung 2014 gescheitert war.

Die Regierung in London müsste zustimmen, sagt aber nein. Das Thema könnte nach der schottischen Regionalwahl im Mai 2021 wieder heißer werden, falls die SNP die absolute Mehrheit gewinnt.

Verwendete Quellen
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