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Iran, Hongkong, Chile: Die Massenproteste rund um den Globus


Massenproteste rund um den Globus
Die Welt brennt – na und?


Aktualisiert am 23.11.2019Lesedauer: 5 Min.
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Ein Demonstrant gestikuliert vor einem Feuer in Santiago de Chile: In vielen Staaten protestieren Tausende. Was bedeutet das?Vergrößern des Bildes
Ein Demonstrant gestikuliert vor einem Feuer in Santiago de Chile: In vielen Staaten protestieren Tausende. Was bedeutet das? (Quelle: Henry Romero/reuters)

Von Chile über Irak bis Hongkong gehen die Menschen auf die Straßen. Mittlerweile nimmt der Westen Notiz. Einfluss auf das Weltverständnis haben die Massenproteste hierzulande nicht.

Es gibt Ereignisse, die hinterlassen sofort Spuren im kollektiven Gedächtnis. Sie werden zum Bezugspunkt von Erinnerungen und Erzählen, sie verändern die Art, wie Menschen auf die Welt schauen. Man merkt das daran, dass sie immer wieder Vergleichsgröße sind, in Reden auftauchen, nebenbei eingestreut werden. Man erkennt sie an Formulierungen wie "in Zeiten von" und daran, dass sie Namen bekommen wie "Arabischer Frühling".

Und dann gibt es Ereignisse, die sind wahrscheinlich nicht kleiner oder unbedeutender, aber sie haben so gut wie keine Auswirkung auf das politische Denken im Westen, in Europa, in Deutschland. Vielleicht nimmt man sie zur Kenntnis – eine Rolle spielen sie nicht.

Ereignisse wie die Französische Revolution, die Weltkriege, der 11. September 2001, aber auch die Wahl Donald Trumps, der Brexit, die Wahlerfolge Viktor Orbans in Ungarn oder die Gelbwesten in Frankreich haben das Denken verändert. Sie wurden zu festen Bezugspunkten. Sie informieren Zeitdiagnosen, sie verändern die Sicht auf die Welt, sie werden, wie die Gelbwesten in kürzester Zeit, zum Referenzpunkt.

Weltweite Massenproteste

Zu den Ereignissen, die seltsamerweise kaum Spuren hinterlassen, zählt angesichts ihrer Größe nicht nur die friedliche Revolution in der DDR, dazu zählt auch die Samtene Revolution in Armenien von 2018, die Revolution im Sudan aus diesem Jahr, dazu zählen auch die Massenproteste in Hongkong, die vielen anderen aktuellen Protestbewegungen im Libanon, in Chile, Bolivien, Ägypten, Algerien, Katalonien, Tschechien, Irak und Iran.

Überall dort gehen Tausende auf die Straße – aber entweder, die Ereignisse werden hier gar nicht wahrgenommen, oder häufiger, sie werden zwar wahrgenommen, aber sie verändern den Blick auf die Welt nicht nachhaltig. Man könnte dramatisch sagen: Die Welt steht in Flammen und der Westen zuckt ahnungslos mit den Schultern.

Wieso? Und wie sehr verzerrt das unser Verständnis der Welt?

Was entgeht uns dadurch?

Die Gelbwesten verändern unsere Vorstellung von den Möglichkeiten des Klimaschutzes, vielleicht mehr, als es die Millionen Menschen zählende globale Klimaschutzbewegung tut, aber die Proteste in Hongkong verändern nicht unser Verständnis chinesischen Einflusses in Südostasien.

Man könnte nun fragen, warum das so ist, und ein Teil der Antwort wäre sicher: Es hat mit geografischer und gefühlter Nähe zu tun, mit Zugang zu Informationen, mit der Ausstattung von Nachrichtenredaktionen, mit Eurozentrismus, damit, ob bestimmte Ereignisse von Akteuren hier instrumentalisierbar sind oder nicht und auch damit, wie viel Angst sie machen, denn Dystopie schlägt Utopie.

Aber die viel interessantere Frage lautet: Was entgeht uns dadurch?

Wie mächtig ist China?

Könnten die Reaktionen Chinas auf die Proteste in Hongkong etwas verraten über die Möglichkeiten und Bereitschaft der chinesischen Führung, Gewalt einzusetzen (oder ab einem bestimmten Level nicht offen einzusetzen)? Oder darüber, dass sich der Wunsch nach Selbstbestimmung dort, wo die Menschen wirklich unter Chinas Einfluss stehen, immer noch viel größer ist als der Wunsch, sich dem angeblichen Wohlstandswunderland anzuschließen? Verrät es vielleicht etwas über die langfristigen Möglichkeiten Chinas, mit seiner neuen Hightech-Wirtschaft nicht nur ökonomischen Druck auszuüben, sondern als Soft Power zu wirken – und ist diese Soft Power vielleicht aus der Nahsicht kleiner, als es aus dem Westen erscheint, wo man sich angewöhnt hat, Chinas Aufstieg mit einer Mischung aus Sorge und Bewunderung zu beobachten?

Sagt uns der anhaltende Aufstand in Hongkong vielleicht genauso viel über Chinas Zukunft wie das Neue-Seidenstraßen-Projekt oder das Social Scoring, die hier viel häufiger Zukunftsvisionen informieren?

Unwahrscheinliche Revolution in Russlands Nähe

Die russische Annexion der Ostukraine veränderte unser Bild der Beziehungen zwischen Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, aber die friedliche Revolution in Armenien, einem Land, das extrem von Russland abhängig ist, wurde hier kaum beachtet: Vielleicht verrät sie uns aber etwas über Russlands Fähigkeit, vom Kreml so verhasste Straßenproteste abzuschrecken (oder nicht)? Oder über die Mechanismen von versuchter autoritärer Machtübernahme und Protest? Oder darüber, wie es möglich ist, trotz Abhängigkeit von Russland eine demokratische Revolution so umzusetzen, dass man damit durchkommt?

Sagen die Proteste in Chile etwas darüber aus, welche Folgen marktradikale Reformen oder Militärputsche oder die Kombination aus beidem für eine Gesellschaft haben? Sagen die Proteste in Venezuela und Bolivien etwas über die Grenzen linken Populismus? Oder sagt die Tatsache, dass es in ganz unterschiedlichen südamerikanischen Ländern zu Aufständen kommt, dass etwas Fundamentaleres auf dem Kontinent im Argen liegt?

Bedeutet es etwas (und was), dass der russische TV-Kanal Redfish auf Twitter auffallend viele Videos von Gewalttaten rechter Milizen in Bolivien teilt und unter dem Schlagwort #thisisacoup ("Das ist ein Coup") für den linken Präsidenten Evo Morales Position zu ergreifen scheint, der nicht von der Macht lassen wollte – obwohl doch Russland in Europa eher radikal rechte Bewegungen stützt?

Aufstand in der heiligen Stadt

Was sagen die Proteste im Iran, im Libanon und im Irak, dort gerade in der heiligen schiitischen Stadt Kerbala, über den Nahen Osten? Was über die Einflussmöglichkeiten des Irans in der Gegend, die möglicherweise schwinden, was Folgen hätte weit über die Staaten hinaus?

Müsste eine so ausdauernde Revolution wie im Sudan, in einem Land, das Jahrzehnte des Bürgerkriegs und kürzlich auch die Abspaltung eines Landesteils hinter sich hat und deshalb anfällig für aggressiven Nationalismus sein könnte, nicht unser Verständnis von Revolution, Separatismus und natürlich auch vom nördlichen Zentralafrika beeinflussen?

Kann es sein, dass Massendemonstrationen von 200.000 Menschen in einem Staat mit 10 Millionen Einwohnern wie Tschechien, der zuletzt als wenn auch gesprächsbereiter Teil der Visegrád-Staaten, einer antiliberalen Allianz innerhalb der EU, auffiel, wirklich gar keinen Einfluss auf die Art haben, wie wir Mittel- und Osteuropa wahrnehmen?

Hängen die Proteste zusammen?

Sagt die Gesamtheit der Proteste etwas darüber, wie Protest in Zeiten von Smartphones, aber auch digitaler Repression (ja, "in Zeiten", auch die Digitalisierung und soziale Netzwerke prägen unser Weltverständnis) in Massenrevolten organisiert werden könne und müsse – nämlich dezentral? Und sagt das vielleicht etwas über das Verhältnis dieser Bewegungen zu Hierarchie und Herrschaft oder gerade nicht?

Verrät die Unverbundenheit dieser Bewegungen, die zeitgleich auftreten, aber sich zumeist nicht explizit aufeinander zu beziehen scheinen, etwas über das Funktionieren von Ansteckung politischer Phänomene?

Nehmen wir an, dass es gewisse gemeinsame Ursachen oder Auslöser geben muss, dass es sich also um eine global verstandene Bewegung von 1848 oder 1968 handelt? Könnte es mit einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums zu tun haben, wie der Politikwissenschaftler und Journalist Fareed Zakaria vermutet? Und wenn, was unterscheidet das Abflauen des Wachstums von Stagnation auf hohem oder niedrigem Niveau?

Hat das Aufflammen von Protesten etwas damit zu tun, dass globale Institutionen und Ordnungssysteme seit Jahren kaputt geschlagen werden, auch von Staaten wie den USA? Hat es etwas mit dem Handelskrieg zwischen den USA und China zu tun?

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Verzerrtes Weltbild

Liegt es, wie der britische Historiker Niall Ferguson meint, am steigenden Bildungsniveau, das zu viele gut ausgebildete junge Männer ohne Job dastehen lässt, der ihrem Selbstbild gerecht wird?

Oder nehmen überhaupt nicht an, dass es gemeinsame Gründe gibt – und was folgt daraus für die Bewertung anderer Phänomene, bei denen wir schneller gemeinsame Ursachen vermuten, ohne das im Einzelfall belegen zu können?

All das sind erst einmal nur Fragen, Deutungsfetzen, sie könnten der Ausgangspunkt für Thesen und Analysen sein. Damit sind noch keine Antworten gegeben, aber der Hinweis, dass man nicht einmal verstehen kann, wie die eigene Wahrnehmung verzerrt sein könnte, wenn man sich nicht wenigstens bewusst macht, was man nicht sieht.


Gewiss ist nur, dass ein Weltverständnis, das derart viele Großereignisse, Umbrüche und Massenproteste ignoriert, gar nicht anders als verzerrt sein kann.

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