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Krise in Belarus: "Lukaschenko hat Angst um sein Leben"


Krise in Belarus
"Lukaschenko hat Angst um sein Leben"

  • David Schafbuch
InterviewVon David Schafbuch

Aktualisiert am 13.11.2021Lesedauer: 6 Min.
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Belarussische Soldaten an der Grenze zu Polen: Dem Regime wird vorgeworfen, gezielt Migranten nach Polen zu schleusen.Vergrößern des Bildes
Belarussische Soldaten an der Grenze zu Polen: Dem Regime wird vorgeworfen, gezielt Migranten nach Polen zu schleusen. (Quelle: Leonid Scheglov/BelTA/reuters)

Wie lässt sich die Flüchtlingskrise an der Grenze zwischen Belarus und der EU lösen? Jakob Wöllenstein von der Konrad-Adenauer-Stiftung sieht erste Fortschritte – doch das belarussische Regime scheint unberechenbar.

Es sind erste Erfolge aus Sicht der Europäischen Union im Konflikt mit Belarus: Um den Andrang von Flüchtlingen zu verringern, dürfen Menschen aus Syrien, dem Irak und dem Jemen ab dem heutigen Freitag nicht mehr aus der Türkei in das Land reisen. Ähnliche Abkommen werden wohl mit weiteren Ländern angestrebt. "Alle Airlines müssen wissen, wer sich der Mittäterschaft verbrecherischer Schleusungen schuldig macht, der wird mit Konsequenzen rechnen müssen, auch durch Sanktionen bei Überflugrechten oder Landegenehmigungen", machte auch Außenminister Heiko Maas (SPD) in einem Interview mit der "Rheinischen Post" deutlich.

Für Jakob Wöllenstein, Büroleiter der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Litauen, ist das Flugverbot ein richtiger Schritt, um die Krise zu beenden. Im Interview mit t-online erläutert er, wie das belarussische Volk die Lage wahrnimmt und wo er die Schwachstellen der EU sieht.

t-online: Die Flugreisen aus der Türkei wurden für Syrer, Jemeniten und Iraker heute sowohl von der staatlichen belarussischen Airline Belavia, später auch von der türkischen Luftfahrtbehörde verboten. Noch gestern hatte der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko der EU gedroht, er könnte den Konflikt weiter eskalieren lassen. Woher kommt der Umschwung?

Jakob Wöllenstein: Das sind zwei unterschiedliche Punkte. Was die Flugverbote angeht, zeigt sich deutlich, dass es sich wirklich lohnt, mit den Ländern zu sprechen, aus denen die Migranten stammen oder anreisen. Auch Litauen ist bereits so vorgegangen – mit Erfolg. Eine massive Informationskampagne wäre in den Herkunftsländern wichtig: Diese Menschen werden mit Lügen nach Belarus gelockt. Lukaschenko hat nichts mit der Aussetzung dieser Flüge zu tun – im Gegenteil.

Er wird also weiter auf Eskalation setzen?

Das Potenzial dafür will er weiter hochhalten. Vor einigen Tagen erst hat er auch Regionalflughäfen in dem Land zu internationalen Flughäfen ernannt. Dadurch können Migranten aus dem Nahen Osten zum Bespiel auch über Brest ohne Visa einreisen. Vorher war das nur in Minsk möglich.


Wer sich die Flugpläne in Minsk anschaut, sieht, dass Istanbul nur eines der Drehkreuze in diesem Konflikt bisher war. In der letzten Zeit kamen täglich auch rund zehn Flüge aus Ägypten in der Hauptstadt an, ebenso aus Syrien oder dem Libanon. Müsste man jetzt weitere Flugverbote mit anderen Ländern aushandeln?

Auf jeden Fall. Europas Reaktion im Mai auf den Ryanair-Vorfall zeigte, dass vor allem ein schnelles und entschlossenes Handeln Wirkung zeigt. Doch müssen solche Maßnahmen bei einer Verbesserung der Lage auch wieder revidierbar sein, um einen politischen Prozess zu ermöglichen. Und sie sollten nicht unnötig stark Unbeteiligte treffen. Denn nicht der Flugverkehr an sich ist das Problem, sondern der Missbrauch angeblicher Touristenvisa durch das Regime für faktische Schlepperei.

Die Bundesregierung und die EU wollen in jedem Fall nicht so wirken, als seien sie von Lukaschenko erpressbar. Die Kanzlerin suchte schon mehrfach das Gespräch mit Wladimir Putin. Es heißt oft, der Kreml sei die treibende Kraft hinter dieser Krise.

Auch der polnische Premierminister Morawiecki hat sich bereits so geäußert. Mich hat diese Aussage etwas überrascht. Auf der einen Seite nutzt es Putin, wenn sich Lukaschenko immer weiter vom Westen entfernt. Belarus ist allerdings nicht eine Provinz Russlands. Das hätte Putin vielleicht gerne, aber Lukaschenko kann die EU auch von sich aus versuchen zu erpressen. Belarus will die Lage ja eskalieren, um Verhandlungen mit Europa zu provozieren. Allerdings geht dieser Plan bisher nicht auf.

Aber ist so ein verhältnismäßig kleines Land überhaupt ohne die Rückendeckung Russlands in der Lage, eine solche Krise hervorzurufen?

Welche Ressourcen braucht es denn dafür? Mit der staatlichen Fluglinie Belavia gab es die Möglichkeit, die entsprechenden Regionen anzufliegen. Ansonsten war noch eine Kampagne in sozialen Netzwerken nötig, um für die Flüge zu werben. Dafür zahlen mussten die Migranten selbst. Nachdem die ersten Menschen dann ankamen, haben sich ihre Bilder in den Heimatländern verbreitet. Für diese Krise muss man keine Supermacht sein. Es ist auch kein Geheimnis, dass die EU in wohl keinem Thema so gespalten ist wie in der Migrationspolitik.

Zuletzt sprach Lukaschenko davon, eine Gaspipeline abzuschalten, die von Russland über Belarus in die EU führt. Der Kreml sicherte seine Lieferungen über Belarus weiter zu. Die Oppositionelle Svetlana Tichanowskaja sprach von einem Bluff des Regimes. Hat sie damit recht?

Zuzutrauen ist Lukaschenko grundsätzlich fast alles. Doch diese Drohung in einem völlig anderen Bereich zeigt vor allem: Die Migrationskrise hat er künstlich herbeigeführt. Er will sich an der EU rächen und den Druck erhöhen, egal wie. Dreht er das Gas ab, würde er aber nicht nur Russland verärgern, sondern auch Transitgebühren verlieren. Das Land ist wirtschaftlich ohnehin schon schwer angeschlagen.

Russland könnte aber auch davon profitieren: Man hätte ein weiteres Argument, um Nord Stream 2 in Betrieb zu setzen.

Grundsätzlich wäre das denkbar. Aber Lukaschenko will nicht komplett von Moskau abhängig sein. Das würde seinen Handlungsspielraum noch weiter einschränken.

Auch in seiner Wortwahl wirkte er zuletzt drastisch. Die EU nannte er "Bastarde" und "Wahnsinnige". Welchen Eindruck macht er gerade auf Sie?

Er handelt sehr emotional. Das Bild des unangefochtenen Herrschers versucht er auch mit seiner Wortwahl weiter aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig habe ich den Eindruck, dass er mittlerweile Angst um sein Leben und das seiner Familie hat.

Woran liegt das?

Er hat Angst, seine politische Macht zu verlieren – und damit auch sein Leben. Es gibt Gerüchte, dass mittlerweile auf jeder Reise ein Militärhubschrauber hinter ihm herfliegen muss oder dass er aus Angst vor Scharfschützen viele Bäume fällen ließ.

Seit seiner geschönten Wiederwahl steht Lukaschenko unter enormem Druck. Wie nehmen die Menschen in Belarus diese Flüchtlingskrise wahr?

Die staatlichen Medien zeichnen das Bild einer Krise, an der Belarus keine Schuld trifft. Stattdessen liegt sie beim Westen, der das Chaos im Nahen Osten angerichtet haben soll. Vor allem die jüngste Krise in Afghanistan dient hier als Beispiel. Allerdings zeigen viele Umfragen, dass die Menschen dem Staatsfernsehen nicht mehr trauen.

Wie stehen die Menschen dort zu den Geflüchteten?

Ich habe bisher nicht den Eindruck, dass sich die Stimmung gegen sie persönlich richtet. Die Krise verdeutlicht aber den Menschen wieder, wie ungerecht und widersprüchlich das Regime geworden ist. Durchreisenden Migranten scheint vieles erlaubt, was der Zivilbevölkerung verboten ist. Sie laufen etwa in größeren Gruppen durch die Stadt und dürfen ohne Kontrolle die Grenze überqueren. Die belarussische Bevölkerung kann das nicht mehr. Lukaschenko hat den Rechtsstaat weitgehend außer Kraft gesetzt. Stattdessen ist er zu einer Bestrafungsmaschine gegen Dissidenten geworden.

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Die Leidtragenden dieses Konflikts sind die vielen Menschen, die sich im Grenzgebiet zu Polen aufhalten. Allein aus dem Kurdengebiet sollen es 8.000 sein. Sie werden von der belarussischen Seite nach Polen getrieben, die polnische Seite versucht sie daran zu hindern die Grenze zu überwinden. Was wissen Sie über die Situation dort?

Sind sie im Grenzgebiet angekommen, gibt es kaum einen Weg mehr zurück. Es gibt immer wieder Berichte, dass dort Geflüchtete sterben oder Warnschüsse abgegeben werden. Die Bilder der eingepferchten Menschen sind natürlich vom belarussischen Regime gewollt.

In Deutschland sollen in diesem Jahr rund 9.000 Geflüchtete über Belarus und Polen angekommen sein. Vergleiche mit der Flüchtlingskrise 2015 sind aufgrund der Zahlen für Deutschland unangebracht. Was spricht dagegen, die Menschen ohne größere Diskussion aufzunehmen?

Aus menschlicher Sicht ist das verständlich. Viele EU-Staaten fürchten allerdings eine Sogwirkung, dass dann immer mehr Menschen nach Europa wollen. Die Lage in Belarus lässt sich noch verhältnismäßig einfach steuern, aber was würde dann in Griechenland oder in der Türkei passieren, wenn die Nachricht kursiert, dass Europa die Grenzen öffnet? In Litauen zeigt sich, dass die wenigsten Menschen die Möglichkeit haben werden zu bleiben: Insgesamt wurden dort etwa 3.000 Asylanträge gestellt, 1.500 wurden bearbeitet, 6 wurden genehmigt. Eine solche Geste kann nur funktionieren, wenn es eine einmalige Notsituation bleibt und die Asylverfahren danach nicht außer Kraft gesetzt werden. In ihrer strategischen Kommunikation ist die Europäische Union allerdings schlecht. Das wissen wir seit 2015.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Jakob Wöllenstein am 12.11.2021
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