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Mittelstands-Chef: "Scheitern der Sondierung ist ein Desaster für Deutschland"


Mittelstands-Chef zu Jamaika-Aus
"Scheitern der Sondierung ist ein Desaster für Deutschland"

t-online, Marie Illner

21.11.2017Lesedauer: 9 Min.
Sichtbare Enttäuschung: CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, Kanzlerin Angela Merkel und Unions-Fraktionschef Volker Kauder am Tag nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen.Vergrößern des BildesSichtbare Enttäuschung: CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, Kanzlerin Angela Merkel und Unions-Fraktionschef Volker Kauder am Tag nach dem Abbruch der Jamaika-Sondierungen. (Quelle: Michael Kappeler/dpa-bilder)
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Wie denkt die Wirtschaft über den Abbruch der Gespräche zwischen Union, FDP und Grünen? Mittelstands-Präsident Mario Ohoven befürchtet schwerwiegende Folgen und warnt vor Neuwahlen.


Welche Bedeutung hat der Abbruch der Sondierungsgespräche für den Mittelstand?

Mario Ohoven: Das Scheitern der Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition ist ein Desaster für Deutschland. Wir können die Aussagen von Herrn Lindner verstehen: Besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren. Die Kompromisse wären zum Teil mit teurem Geld der Bürger erkauft worden. Unsere Unternehmen brauchen Planungssicherheit, nur dann können sie investieren, Arbeitsplätze schaffen und für Wachstum sorgen. Die Politik hat dadurch den Vertrauensvorschuss des Mittelstands verspielt, wir sind enttäuscht von den Verhandlern und der fehlenden Führung der Kanzlerin. So lässt sich mit einer Minderheitsregierung zum Beispiel langfristig keine Haushaltssicherheit erzielen.

Welche Signale sendet der Abbruch ins Ausland?

Das Signal ins Ausland ist verheerend. Denn Wirtschaft ist immer auch Psychologie. Mit jedem Tag ohne handlungsfähige Regierung wachsen die Zweifel bei ausländischen Investoren. Das schadet dem Ansehen des Wirtschaftsstandorts Deutschland und seinen Zukunftsperspektiven. Dieses Verhandlungsdesaster schwächt aber auch unsere Demokratie. Dem Wähler muss sich der Eindruck aufdrängen, hier standen wieder einmal Parteiinteressen vor dem Gemeinwohl. Ich warne deshalb alle, die auf Neuwahlen spekulieren – von den Kosten von über 90 Millionen Euro einmal abgesehen, wäre es Wasser auf die Mühlen extremer Kräfte. Meine Hoffnung ist, dass sich doch noch eine Koalition der Gutwilligen bildet. Ich setze da insbesondere auf die SPD. Sie sollte in dieser besonderen Situation ihrer staatspolitischen Verantwortung gerecht werden und über ihren eigenen Schatten springen.

Wenn die Briten tatsächlich die EU verlassen, könnte das besonders den deutschen Mittelstand treffen. Wie schätzen Sie die Folgen ein und welche Form der Vorbereitung raten Sie Mittelständlern?

Der Brexit wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit kommen. Frau May kann sich keinen Rückzieher leisten. Und es gibt in Großbritannien keine breite Pro-EU-Bürgerbewegung, die ständig Druck auf die Regierung ausübt. Was die deutsche Wirtschaft jetzt vor allem braucht, ist Planungs- und Investitionssicherheit. Denn unsere Wirtschaft ist auf das engste mit der britischen Wirtschaft verknüpft. Für das Vereinigte Königreich sind wir noch vor den USA der wichtigste Handelspartner. Für Deutschland ist das Vereinigte Königreich der drittwichtigste Exportmarkt.

Mehr als 2500 deutsche Unternehmen, darunter sehr viele Mittelständler, haben eigene Niederlassungen in Großbritannien. Umgekehrt sind hierzulande rund 3000 britische Unternehmer engagiert - insgesamt sind daher bei uns 750.000 Arbeitsplätze betroffen. Drohende Zölle und bürokratische Hürden schaden schon jetzt dem Investitionsklima. Der EU-Binnenmarkt nutzt allen Partnern. Brüssel muss daher die notwendigen Weichen für einen sanften Brexit stellen. Für uns ist es wichtig, dass Großbritannien im Binnenmarkt und in der Zollunion bleibt, oder dass es über ein Abkommen in die europäische Freihandelszone eintritt, ähnlich wie Norwegen oder Island. Ich rate, erst einmal abzuwarten, wohin die Reise geht.

Eine Umfrage der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young fand heraus, dass aktuell nur vier Prozent der befragten Firmen eine Brexit-Strategie haben. Woran liegt das?

Ich bin davon überzeugt, dass weitaus mehr Unternehmen eine Brexit-Strategie haben und sich dann nach der Macht des Faktischen richten. Man muss sich nur anschauen, wie viele Firmen schon aus London weggezogen sind, Umzüge planen oder wie die Wirtschaft und die britische Währung reagiert haben. Die Deutschen sind besser auf den Brexit vorbereitet als angenommen. Der große Verlierer wird Großbritannien selbst sein.

Der Mittelstand gilt als der wichtigste Innovations- und Technologiemotor Deutschlands und genießt international großes Ansehen. In welchem Bereich brauchen wir künftig Innovationen am dringendsten?

Die Zukunft ist der Mittelstand 4.0 – das heißt der digitale Mittelstand. Da besteht noch erheblicher Nachholbedarf. Deutschland ist im EU-Vergleich bei der Digitalisierung bestenfalls Mittelmaß. Im vergangenen Jahr hatten bei uns nur 40 Prozent der Unternehmen einen Internetanschluss mit mindestens 30 Megabit pro Sekunde. In Dänemark waren es 65 Prozent. Beim Glasfaserausbau sind wir mit einem Anteil von etwa 1.5 Prozent gemessen am EU-Durchschnitt von 15 Prozent Schlusslicht.

Die im Haushalt bereit gestellten 4,4 Milliarden Euro für den Breitbandausbau sind für den Mittelstand ein Tropfen auf den heißen Stein. Nötig wären zweistellige Milliardenbeträge, um überhaupt mithalten zu können. Das Kompetenzgerangel unter Schwarz-Rot hat die Aufholjagd zusätzlich erschwert. Es ist höchste Zeit, dieses Chaos zu beenden und deshalb müssen alle Zuständigkeiten künftig in einem Digital-Ministerium gebündelt werden. Viele Köche verderben den Brei.

Was hemmt aktuell diesen Prozess?

Als Sigmar Gabriel noch Wirtschaftsminister war, hat er mir vor zweieinhalb Jahren im Ministerium vorgehalten, 80 Prozent des Mittelstandes scheuten die Digitalisierung. Ich habe ihm geantwortet, es seien zwar keine 80, aber mit Sicherheit 50 Prozent. Diese 50 Prozent sind aber immer noch zu viel. Als er fragte, ob wir als Verband helfen könnten, haben wir uns darauf geeinigt, eine Reihe von "Road-Shows" zu veranstalten. Wir haben dann die Geschäftsführer unserer bundesweit 300 Geschäftsstellen, die im Jahr 800.000 direkte Unternehmerkontakte haben, eingeschaltet und Vorträge für Unternehmen organisiert, bei denen Experten auf einfache Weise die neue "Fremdsprache digital" mit der klaren Botschaft vermittelt haben.

Niemand kommt um die Digitalisierung herum. Man muss auch Folgendes sehen: Viele Unternehmer haben Angst vor Cyberkriminalität. Manche sagen mir: "Das Wissen, was wir in den letzten Jahren angesammelt und erarbeitet haben, sind die geistigen Werte unseres Unternehmens. Diese sollen wir jetzt in einen Computer eingeben? Und dann kommt ein Hacker und holt sich dieses Wissen in Sekundenbruchteilen. Geben Sie mir lieber Facharbeiter." Es ist und bleibt ein längerer Prozess.

Digitalisierung ist ein zweischneidiges Schwert – an den Stellen, wo Maschinen den Menschen ersetzen gehen Arbeitsplätze verloren. Wie muss man damit umgehen?

Wir hatten all diese Umbrüche schon: Wie war es denn, als die ersten Webmaschinen auf den Markt kamen? Damals sind Arbeiter in die Fabriken gegangen und haben die Maschinen zerstört. Aber: Wie viele Mitarbeiter hatte die Textilindustrie damals und wie viele hat sie heute? Wir zählen heute ein Vielfaches an Mitarbeitern – trotz der besten Maschinen. Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich immer eine neue. Oft wird auch gefragt: Was ist, wenn die LKW-Fahrer nicht mehr gebraucht werden? Dann droht vielen der 1,5 Millionen LKW-Fahrer in Deutschland die Arbeitslosigkeit. Aber für sie wird es mit Bildung und Fortbildung andere Chancen geben, davon bin ich überzeugt.

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Als 2015 mehr als 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kamen, hoffte man, sie könnten auch zur Bewältigung des Fachkräftemangels beitragen. Wie beurteilen Sie heute die Integration von geflüchteten Menschen in Ausbildung und Arbeit?

Die Flüchtlinge sind nicht das, was uns viele Politiker sagen: Die Facharbeiter von morgen. Sie sind bestenfalls die Facharbeiter von überübermorgen. Ein großes Problem bei der Integration bleibt die Sprache. Ich besuche sehr viele Firmen und Produktionsbetriebe. Dabei habe ich in konkreten Situationen Verständigungsprobleme zwischen Meister und Flüchtlingen erlebt – ob es am Fließband ist, das dann gestoppt werden muss, oder bei der Beschriftung von Waren. Wegen mangelnder Vorbildung – 11 Prozent der Asylbewerber haben keine Schulbildung, 20 Prozent nur auf Grundschulniveau – sind Flüchtlinge nur schwer in den betrieblichen Ablauf integrierbar. Das muss man trotz der zahlreichen Initiativen im Mittelstand, bei denen sich bis ins Private gekümmert wird, ehrlich sagen.

Es steht außer Frage, dass die Menschen aus Kriegsgebieten bei uns aufgenommen werden müssen. Aber es gibt zu viele Migranten, die hier in die soziale Hängematte wollen. Das muss sich ändern. Kanada und Australien haben beispielsweise einen Zehn-Punkte-Plan – zehn Punkte, die man erfüllen muss, um ins Land zu kommen. Ich erwarte in der Flüchtlingsfrage von der neuen Bundesregierung Ehrlichkeit, insbesondere was Zahlen angeht. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass seit 2015 nur 15 Milliarden für Asylbewerber ausgegeben wurden. Zur Ehrlichkeit gehört auch, dass die Integration eine Aufgabe für Generationen ist.

Der europäische Binnenmarkt ist für den Mittelstand zunehmend bedeutender geworden. Er wird von mehr als 93 Prozent der mittelständischen Exporteure beliefert. Wie beobachten Sie aktuell die Situation in Spanien?

Spanien hat sich gerade erst von einer tiefen Wirtschaftskrise erholt. Der Katalonien-Konflikt könnte den wirtschaftlichen Aufschwung gefährden. Katalonien ist mit über einem Fünftel des gesamten Bruttoinlandprodukts (BIP) bei nur 16 Prozent der Bevölkerung das wirtschaftliche Rückgrat Spaniens. In Spanien sind rund 1600 deutsche Mittelständler aktiv, davon 50 Prozent in Katalonien. Das zeigt: Katalonien ist ein attraktiver Investitionsstandort für deutsche Unternehmer. Unter einer Abspaltung würde vor allem die katalanische Wirtschaft leiden, einige große Banken und Konzerne haben ja ihren Sitz bereits verlegt. Und ich bin überzeugt: Viele der dort tätigen deutschen Unternehmer würden im Falle einer Abspaltung ihren Standort ebenfalls überdenken.

Ich sehe die Autonomiebestrebungen Kataloniens auch aus einem anderen Grund mit großer Sorge, denn hier droht ein Dominoeffekt. Wird Katalonien unabhängig, werden die Separatisten beispielsweise in Italien und Belgien Morgenluft wittern. Die europäische Familie muss aber gerade jetzt in Zeiten des Brexits und wachsender internationaler Spannungen zusammenstehen. Wir brauchen mehr und nicht weniger Europa.

Und wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund euro-skeptische bis -feindliche Parteien wie den Front National oder die AfD?

Brüssel hat bisher nur die Köpfe angesprochen, nicht die Herzen. Aber 80 Prozent der Entscheidungen, die ein Mensch trifft, stammen nun einmal aus der Emotio und nur 20 Prozent aus der Ratio. In dem Maße, wie sich Teile der Medien auf die AfD einschießen, entsteht bei den Wählern ein Mitleidseffekt. Die AfD ist demokratisch gewählt worden und hat daher ihre Berechtigung, im Parlament zu sitzen. Anstatt die AfD auszugrenzen, müssen die anderen Parteien die Diskussion mit ihr suchen. Gleiches gilt für die Medien: Die AfD darf nicht ausgeladen werden. Im Gegenteil: rein auch in die Talkshows! Ich bin überzeugt, die AfD demaskiert und demontiert sich selbst am besten.

Was wünschen Sie sich von der kommenden Regierung?

Die Große Koalition hat einen großen Reform- und Investitionsstau hinterlassen. Das Ergebnis sind marode Straßen, ein altes Schienennetz und baufällige Schulen. Allein die Kommunen schieben einen Investitionsstau von über 150 Milliarden Euro vor sich her. Deutschland muss endlich in seine Zukunft investieren, anstatt den Sozialstaat weiter aufzublähen. Die Bürokratiekosten müssen sofort gesenkt werden, sie lagen 2016 bei 45 Milliarden Euro – man stelle sich vor, wie viel Arbeitsplätze man damit schaffen kann. Wir brauchen eine Bildungsoffensive und müssen die Schulen digitalisieren. Würde ein Prozentpunkt der Mehrwertsteuer in Bildung investiert, stünden jährlich 10 Milliarden Euro mehr zur Verfügung. Wir brauchen dringend Glasfaseranschlüsse bis in die Gebäude hinein.

Außerdem muss der Steuerzahler entlastet werden: Deutschland hat beispielsweise bei Alleinstehenden mit 49,4 Prozent die zweithöchste Steuern- und Abgabenquote der Welt. Soli und Erbschaftsteuer müssen daher abgeschafft werden. Wir brauchen zudem eine steuerliche Forschungsförderung, wie es sie bereits in 28 von 35 OECD-Ländern gibt. Was auch fehlt, ist ein Wagniskapitalgesetz zur Stärkung innovativer Klein- und Mittelbetriebe. Wenn deutsche Investoren beispielsweise in einem Venture Capital Prospekt lesen, dass ihre gesamte Investition verloren gehen könnte, dann wandert der Prospekt sofort in die Ablage. Damit Venture Capital auch in Deutschland besser läuft, brauchen wir interessante steuerliche Vergünstigungen.

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Thema ist auch der Kohleausstieg Deutschlands. Kein Land verbrennt weltweit so viel Braunkohle wie Deutschland und schädigt damit dem Klima. Allerdings hängen auch Arbeitsplätze an der Energiegewinnung. Kann Deutschland auf einen Weg gebracht werden, der mittelfristig Kohlekraftwerke überflüssig macht?

Dem Mittelstand machen die immer weiter steigenden Energiekosten heute schon große Sorgen. In unseren Nachbarländern ist die Energie zum Teil bis zu 50 Prozent preiswerter. Das bedeutet massive Wettbewerbsnachteile für unsere Unternehmen. Gutachten zeigen auf, dass ein sofortiger Kohleausstieg den Preis pro Megawattstunde um bis zu 15 Euro erhöhen würde. Große Teile der Produktion würden dadurch ins Ausland verlagert werden, Arbeitsplätze in Deutschland vernichtet. Der Umwelt wäre da wenig geholfen. Wir brauchen eine pragmatische Energie- und Klimapolitik aus einem Guss. Vor einem Ausstieg müssen wir auch die zentrale Versorgung möglichst dezentralisieren. Wenn sich zum Beispiel der Raum Frankfurt oder die Region Düsseldorf selbst versorgen könnte, spart das Übertragungsleitungen, schafft Arbeitsplätze und hilft der Umwelt. Langfristig kann dann der Kohleausstieg dann folgen.

Die Wirtschaftsweisen haben in ihrem kürzlich vorgelegten Bericht die Abschaffung des Acht-Stunden-Tages gefordert. Würde dies verdeckte Mehrarbeit oder Flexibilisierung bedeuten? Gehen Sie mit?

Ich teile die meisten, aber nicht alle Vorschläge der Wirtschaftsweisen. Eine stärkere Flexibilisierung der Arbeitszeit, die Senkung des Beitrags zur Arbeitslosenversicherung auf 2,5 Prozent, der Abbau der kalten Progression und eine Zinserhöhung durch die EZB sind richtig. Falsch ist es allerdings, auf die Forderung nach einer steuerlichen Forschungs- und Entwicklungsförderung zu verzichten. Wenn alles so bleibt, wie es ist, rückt das Ziel von dauerhaft drei Prozent Forschungs- und Entwicklungsausgaben am BIP in weite Ferne.

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