Merkel-Zitat wird ein Jahr alt Was nach "Wir schaffen das" passierte
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Drei Worte, die in den Geschichtsbüchern einmal stellvertretend für die Kanzlerschaft von Angela Merkel stehen werden: Am 31. August 2015 äußerte die Bundeskanzlerin zum ersten Mal ihr "Wir schaffen das". In den folgenden Monaten schrieben sowohl Merkel als auch Europa ein Stück Geschichte. Wir blicken zum Jahrestag des Ausspruchs zurück.
August 2015
Angesichts dramatisch steigender Flüchtlingszahlen sind die in Deutschland ankommenden Menschen das Thema schlechthin auf der Bundespressekonferenz. Hier äußert Merkel zum ersten Mal ihr "Wir schaffen das". Tage zuvor kam es im sächsischen Heidenau zu nächtelangen Krawallen zwischen Ausländerfeinden, der Polizei und linken Gegendemonstranten.
September 2015
In Ungarn werden Züge mit Flüchtlingen auf Anordnung der Regierung gestoppt. Die Menschen machen sich zu Fuß auf den Weg nach Deutschland. Nach einem Telefonat mit Viktor Orban und Werner Faymann entschließt sich Merkel zu einem folgenschweren Schritt: Die deutschen Grenzen werden geöffnet, die Menschen können ins Land kommen.
Oktober 2015
Der Druck auf Angela Merkel wächst – und zwar auch in den eigenen Reihen. Innenminister De Maizière sagt "Wir schaffen das nicht ohne weiteres". Der Grünen-Politiker Boris Palmer geht noch weiter und meint "Wir schaffen das nicht". Sigmar Gabriel wirft der CDU "Hilflosigkeit" vor. Und Horst Seehofer stellt zum ersten Mal ein Ultimatum in Richtung Merkel: Bis Allerheiligen müsse eine Entscheidung aus Berlin her, wie verfahren werden soll. Weitere Ultimaten und ein monatelanger Streit zwischen Merkel und Seehofer werden folgen.
November 2015
Zum ersten Mal fällt das Wort "Obergrenze". Angesichts der zahlreichen Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, fordern vor allem Seehofer und die CSU ein Limit. Das Thema bestimmt auch den CSU-Parteitag - wo Seehofer erneut gegen Merkel nachlegt. Sie verlässt daraufhin grußlos die Veranstaltung. "Cicero"-Chefredakteur Christoph Schwennicke spekuliert bei Maybrit Illner bereits darüber, dass es einen Putsch gegen Merkel gäbe. Schließlich haben sich mittlerweile nicht nur Seehofer und De Maizière, sondern auch Wolfgang Schäuble von der Kanzlerin distanziert.
Dezember 2015
CDU-Parteitag in Karlsruhe. Auch hier ist die Flüchtlingsfrage das alles beherrschende Thema. Mittlerweile halten sich Parteikollegen nicht mehr mit ihrer Kritik an Merkel zurück. Aus der CSU kommt erneut ein Ultimatum: Generalsekretär Andreas Scheuer gibt Merkel Zeit bis zum Jahresende, um die Flüchtlingszahlen zu reduzieren. Die Kanzlerin wird derweil vom "Time"-Magazin zur Person des Jahres 2015 gekürt. Es gibt also auch Zuspruch.
Januar 2015
In Köln kommt es in der Silvesternacht zu massiven sexuellen Übergriffen von Nordafrikanern gegen Frauen. Die Debatte kommt erst Tage später ins Rollen, verschärft die Kritik an Merkel aber erneut. Die Kanzlerin bietet eine Verschärfung des Asylrechts an, doch das geht vielen nicht weit genug: In einer Umfrage geben 50 Prozent der Deutschen Merkel die Schuld an den Übergriffen. 90 Prozent der CDU-Wähler lehnen zudem ihren Kurs ab. Auch Hans-Peter Uhl sagt "Wir schaffen das so nicht", während Alexander Dobrindt einen "Plan B" fordert. Und Horst Seehofer? Der stellt mal wieder ein Ultimatum. Dieses Mal droht er mit dem Bundesverfassungsgericht. Als wäre das alles nicht genug, fährt der bayerische Landrat Peter Dreier mit 31 Flüchtlingen nach Berlin - um mit der Aktion gegen die Überforderung in seinem Landkreis zu demonstrieren.
Februar 2016
Merkels Vorgänger meldet sich zu Wort: Auf einer SPD-Veranstaltung in Stuttgart sagt Gerhard Schröder "Ich hätte nicht gesagt: Wir schaffen das. Ich hätte gesagt: Wir können das schaffen, wenn wir bereit sind, Voraussetzungen dafür hinzubekommen." In Brüssel erwartet Merkel sowohl Kritik als auch Zuspruch: "Die Geschichte wird Merkel Recht geben", steht Jean-Claude Juncker der Kanzlerin bei. Gleichzeitig kommt erstmals die Türkei ins Spiel: Angedacht ist ein Handel über Kontingente an Flüchtlingen.
März 2016
Lob aus Griechenland: Alexis Tsipras findet für Merkel nur gute Worte. "Deutschland hat in dieser Krise sehr gut gehandelt und menschliches Verhalten gezeigt", sagt Tsipras der "Bild". Der EU-Gipfel mit türkischer Beteiligung wird unterdessen verschoben und steht ohnehin unter schlechten Vorzeichen. Nach 12-stündigen Verhandlungen steht der Handel dann aber. Er sieht vor, dass Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen, in die Türkei zurückkehren. Dafür bekommt das Land mehrere Milliarden und die Aussicht auf eine Wiederaufnahme der EU-Beitrittsgespräche in Aussicht gestellt. Gleichzeitig wird die sogenannte "Balkanroute", über die viele Menschen nach Mitteleuropa kommen, dicht gemacht.
April 2016
Der Deal mit der Türkei und die Schließung der Balkanroute wirken: In Deutschland kommen weniger Menschen an. 20.608 Personen beantragen Asyl im März. Im Januar waren es noch über 90.000. Die Koalition verabschiedet zudem ein Integrationsgesetz. Es sieht vor, dass Flüchtlingen Werte vermittelt werden und Deutschkenntnisse verpflichtend sind. Gleichzeitig meldet sich Altkanzler Helmut Kohl zu Wort: Die Flüchtlingskrise sei nicht in Europa lösbar, so Kohl. "Europa kann nicht zur neuen Heimat für Millionen Menschen weltweit in Not werden." Thilo Sarrazin geht gleich noch einen Schritt weiter: Merkel habe das "Interesse der Deutschen an der Zukunft der eigenen Nation" nicht mehr im Blick. Auch Horst Seehofer stänkert mal wieder: "Wenn wir unsere Politik nicht ändern in Berlin, dann werden wir unter 30 Prozent rutschen", so der bayerische Ministerpräsident.
Mai 2016
Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte glaubt, dass die Flüchtlingskrise Merkels letzte Aufgabe ist. Er geht nicht davon aus, dass sie noch einmal als Kanzlerin kandidiert. Für seine Einschätzung spricht vieles: Schon Merkels Vorgänger haben in den Spätphasen ihrer Kanzlerschaft Entscheidungen im Alleingang durchgeboxt - und gegen alle Widerstände. Markus Söder gehört zu eben jenen Widerständlern. Im "Spiegel" beklagt er, dass die Union "in Deutschland jeden Tag schwächer" würde und wirft Merkel einen Verrat an konservativen Grundprinzipien vor.
Juni 2016
Sie würde es wieder tun: Gegenüber der "Bunte" sagt Angela Merkel, dass sie die Grenzen für Flüchtlinge erneut öffnen würde. Gleichzeitig räumt sie Versäumnisse ein und fordert, künftig die Fluchtursachen zu bekämpfen. Das "Forbes"-Magazin kürt Merkel zum sechsten Mal in Folge zur mächtigsten Frau der Welt. Und sogar Horst Seehofer schlägt versöhnliche Töne an: "Die Kanzlerin und ich haben jetzt wieder ein Fundament des Vertrauens gelegt, auf das man aufbauen kann", sagt er der "Bild am Sonntag". Die Versöhnung der Schwesterparteien erklärt er zur "Chefsache".
Juli 2016
So richtig in Frieden leben die C-Parteien aber weiterhin nicht: Merkels "Wir schaffen das" könne er sich "beim besten Willen nicht zu eigen machen", sagt Seehofer nach einer Klausur der bayerischen Landesregierung am Tegernsee. Im Rahmen ihrer Sommer-Pressekonferenz wiederholt die Kanzlerin die drei Worte dennoch. 48 Prozent der Befragten einer YouGov-Umfrage sehen das anders und glauben nicht daran. Die Anschläge von Würzburg und Ansbach verschärfen die Situation: "Das wird alles nicht reichen, wenn neue Anschläge kommen - und die werden kommen", sagt Demokratieforscher Dieter Fuchs.
August 2016
"Merkels sehr pauschaler Satz 'Wir schaffen das' hilft da nicht weiter, weil er konkret nichts aussagt", beklagt auch Edmund Stoiber im „Spiegel“. Die Kanzlerin ginge zu wenig auf Empfindungen, Sorgen und Ängste der Bürger ein, so Stoiber weiter. "Einfach mal sagen 'Wir schaffen das', und dann die Sache einfach laufen lassen, ist ein großer Fehler gewesen", resümiert Sigmar Gabriel in den Zeitungen der Funke-Mediengruppe. Man könne nicht Millionen Menschen ins Land lassen, aber sich weigern, die Voraussetzung für deren Integration zu schaffen.
Besonnene Worte kommen dagegen von Joachim Gauck: "Ich mag mir eine Regierungschefin nicht vorstellen, die vor das Volk tritt und sagt: 'Wir schaffen das nicht'. Also, warum sollte man eine solche Person wählen", so der Bundespräsident im ZDF-"Sommerinterview".