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Klima, Ukraine und Nord Stream 2: Die plötzliche Amerika-Liebe der Grünen


Ukraine, Klima und Nord Stream 2
Die wundersame Amerika-Liebe der Grünen

  • Bastian Brauns
Von Bastian Brauns

Aktualisiert am 26.05.2021Lesedauer: 8 Min.
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Robert Habeck und Annalena Baerbock: Die neuen TransatlantikerVergrößern des Bildes
Robert Habeck und Annalena Baerbock: Die neuen Transatlantiker (Quelle: Reuters-bilder)

Früher wollten die Grünen die Nato abschaffen. Nun inszenieren sich die Parteichefs Annalena Baerbock und Robert Habeck als beste Freunde Amerikas. Meinen sie das wirklich ernst?

Wer in andere Länder reist, überschreitet Grenzen. Mit seinem Besuch in der Ukraine hat Robert Habeck nun gleich zwei davon überschritten – eine geografische und eine ideologische. Der Co-Chef der Grünen sagte, der Wunsch der Ukraine nach "Defensivwaffen" sei angesichts der russischen Bedrohung "berechtigt" und man könne ihn "schwer verwehren". Davon rückt Habeck auch nach massiver parteiinterner Kritik nicht ab.

Dass ausgerechnet ein Grünen-Politiker in Kiew von möglichen deutschen Waffenexporten spricht, schien bislang kaum denkbar. War es also eine unbedachte Äußerung, wie man sie von Habeck durchaus kennt – oder steckt dahinter womöglich eine Strategie? Tatsächlich passt Habecks Äußerung zu Signalen, die nicht nur er, sondern auch die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock seit einigen Wochen aussendet.

Diese Signale werden auf nahezu allen Politikfeldern gesendet. Gerichtet sind sie an die Vereinigten Staaten von Amerika. Es wird immer deutlicher, dass die Grünen zeigen wollen: Wir sind die neuen Transatlantiker.

Auch Baerbock wirbt um Amerika

Nicht ohne Grund nimmt Annalena Baerbock derzeit so viele Interviews und Podiumsauftritte wahr. So wie etwa kürzlich bei der US-Denkfabrik "Atlantic Council", wo sie sich, interviewt vom "CNN"-Journalisten Fareed Zakaria, vor allem zu ihrer Vorstellung von deutscher Außenpolitik äußerte. Immer wieder lässt sie dabei erkennen, wie sehr die Grünen mit der politischen Agenda des US-Präsidenten Joe Biden harmonieren würden.

Was besonders bemerkenswert ist: Baerbock, Habeck und viele andere Grüne haben die USA derart als wichtigsten außereuropäischen, strategischen Bündnispartner in fast allen Politikfeldern auserkoren, dass sie selbst die traditionelle Transatlantik-Partei CDU zu überholen scheinen.

Beispiele dafür gibt es viele:

Nord Stream 2: Anders als die CDU wollen die Grünen den Bau der Gaspipeline am liebsten sofort stoppen. Sie argumentieren einerseits mit Klimaschutzzielen, die mit fossilem Gas nicht schnell genug zu erreichen seien. Andererseits führen sie die Menschenrechtslage in Russland und die geostrategischen Probleme für die osteuropäischen Staaten an. Damit liegen sie auf einer Linie mit dem Anliegen der USA, auch wenn die Biden-Regierung kürzlich von Sanktionen gegen am Bau beteiligte deutsche Unternehmen abgerückt ist.

Kein Patentschutz für Corona-Impfstoffe: Zur besseren Bekämpfung der Pandemie haben die Grünen schon länger darauf verwiesen, dass Patente für Impfstoffe ausgesetzt werden könnten. Wirklich gefordert hat Robert Habeck das aber erst, als die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und US-Präsident Joe Biden dies im Mai taten: "Deutschland und die EU sollten sich den USA anschließen und sich bei der Welthandelsorganisation für eine Ausnahmeregelung einsetzen." Andere Parteien, außer der Linken, legten sich bei dem Thema nicht fest.

Klimaschutz: Bei ihrem Kernthema verweisen die Grünen gerne auf die neue US-Regierung und deren umfassende Umsetzung eines "Green New Deal". Annalena Baerbock betont immer wieder, dass die EU und die deutsche Bundesregierung die Vorschläge der Biden-Administration für eine klimaneutrale Zusammenarbeit umsetzen müssten. Es brauche eine transatlantische "Klimapartnerschaft", sagte Baerbock im April. Zuletzt traf sie in Berlin auf den Klimabeauftragten und Ex-Außenminister der USA, John Kerry. Obwohl bereits der ehemalige CDU-Umweltminister Norbert Röttgen von der Notwendigkeit einer Klima-Außenpolitik gesprochen hatte, besetzen die Grünen diesen Begriff, indem sie ihn überall platzieren. Die anderen Parteien wirken, als zögen sie nach.

Haushaltspolitik: Eng verknüpft mit dem "Green New Deal" sind massive staatliche Investitionen, die zudem einen wirtschaftlichen Aufschwung nach der Corona-Pandemie garantieren sollen. Hier fordern die Grünen mit Verweis auf den Biden-Plan auch ambitioniertere Pläne für Deutschland und die EU, zur Not mit höherer Staatsverschuldung.

China und Russland: Deutlich wie sonst keine Partei in Deutschland kritisieren die Grünen Menschenrechtsverletzungen in beiden Ländern. Zwar tun sie dies aus einer bequemen Oppositionsrolle heraus. Aber ob eine Huawei-Verbot oder ein Stopp von Nord Stream 2 – auch hier deckt sich die Haltung der Grünen auffallend stark mit der US-Position – viel deutlicher als bei anderen Parteien.

Identitätspolitik: Feminismus, Anti-Rassismus oder Rechte für Schwule, Lesben und Transgender – die Grünen haben bei identitätspolitischen Themen große Überschneidungen im Spektrum der Demokraten in den USA.

Noch 1994 wollten die Grünen die Nato abschaffen

"Die Grünen-Vorsitzenden haben bislang tatsächlich die ambitionierteste transatlantische Agenda vorgelegt", sagt der Politologe Thorsten Benner, Mitgründer der Denkfabrik Global Public Policy Institute zu t-online. Aus dem Kanzleramt sei hingegen derzeit komplette Funkstille hinsichtlich der Biden-Regierung zu vernehmen. "Auch Armin Laschet und Olaf Scholz sind bislang eher wenig durch konkrete Vorschläge aufgefallen", sagt Benner. Gegenüber China und Russland hätten die Grünen die prononcierteste Haltung. "Das ist sowohl für die Amerikaner interessant als auch für das eigene Wählerklientel. Damit lässt sich punkten", sagt Benner.

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Die Grünen haben einen beachtlichen Weg hinter sich: Noch 1994 war im damaligen Bundestagswahlprogramm der Grünen zu lesen: "Die Entmilitarisierung der Politik – dies bedeutet auch die Auflösung der Nato – und der Aufbau ziviler Strukturen sind Prozesse, die parallel laufen müssen" und "Die Politik einer Ausdehnung der Nato nach Osten stellt kein Konzept für die Schaffung von Sicherheit in Europa dar". Heute kann Robert Habeck den Wunsch der Ukraine nach Aufnahme in die Nato nachvollziehen. Als Hindernis gab er in einem Interview mit dem "Deutschlandfunk" nur an, dass das Militärbündnis in dieser Frage noch uneins sei.

Schneller als die USA erlaubt

Habeck scheint das Thema Waffenlieferungen an die Ukraine und die damit verbundene Agenda so wichtig zu sein, dass er sich sogar gegen die eigene Partei stellt. Die Grünen pflegen auch nach den Kriegen auf dem Balkan und in Afghanistan ein gewisses pazifistisches Selbstverständnis. Auch im aktuellen Wahlprogramm heißt es dazu, dass "keine deutschen Waffen in Kriegsgebiete" geliefert werden sollen.

Der Grünen-Co-Chef stellt sich aber auch gegen die Bundesregierung und gegen die Europäische Union – beide wollen sich an Waffenlieferungen in die Ukraine bislang nicht beteiligen, sondern setzen auf Diplomatie und Dialog. Stattdessen ist Habeck nicht nur auf der Linie der USA, er geht sogar darüber hinaus. Zwar hatten die Vereinigten Staaten bereits unter Donald Trump der Ukraine mehrere hundert Panzerabwehrraketen und Trägerraketen geliefert. Aktuell aber wägt die Biden-Regierung Anfragen aus Kiew nach weiteren Abwehrwaffen noch sorgfältig ab. Zu groß erscheint im Weißen Haus das Risiko, Russland damit zu provozieren – zumal Joe Biden und Wladimir Putin am 16. Juni in Genf offiziell aufeinander treffen sollen.

Immer mehr grüne Transatlantiker

Es gibt heute viele ausgewiesene Transatlantiker bei den Grünen. Neben dem Außenpolitiker Cem Özdemir gehören dazu etwa auch der neue grüne Finanzminister von Baden-Württemberg, Danyal Bayaz und seine Freundin, Bayerns Grünen-Vorsitzende Katharina Schulze. Selbst bei der Nachwuchsorganisation "Junge Transatlantiker", die maßgeblich von der CDU geprägt ist, wurde kürzlich der Grüne Julian Joswig (27) in das Policy Board gewählt. In einem Gastbeitrag für den "European" forderte er "einen deutschen John Kerry" als Staatsminister für Klima und Sicherheit.

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Maßgeblich flankiert wird die transatlantische grüne Agenda auch von der Vorsitzenden der Grünen nahen Heinrich-Böll-Stiftung Ellen Ueberschär und Bastian Hermisson, dem Leiter der Böll-Stiftung in Washington. D.C. Hermisson etwa war maßgeblich beteiligt an der Organisation der jeweiligen USA-Reisen von Annalena Baerbock 2018 und Robert Habeck 2020.

Schon damals bauten die beiden Vorsitzenden Netzwerke auf, sprachen unter anderem mit Politikern der US-Demokraten, mit Think Tanks, Nichtregierungsorganisationen oder mit kommunalen Vertretern, um etwa über Klimaschutz, Menschenrechte und die Stärkung von Demokratie zu sprechen. Nicht zuletzt wurde dabei auch die Klimakooperation unter dem Grünen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg und dem Bundesstaat Kalifornien eingetütet. In Zeiten von Trump war schon das eine Art von klimaaußenpolitische Unterwanderung.

Unmut in der Partei über Transatlantik-Ziele

Im Januar 2021 platzierte Böll-Chefin Ellen Ueberschär dann einen Gastbeitrag im "Tagesspiegel" und unterzeichnete einen gleichnamigen Aufruf "Transatlantisch? Traut Euch! Für eine Neue Übereinkunft zwischen Deutschland und Amerika".

Schon das führte zu viel Unmut in der Partei und auch unter Böll-Stipendiaten. Jürgen Trittin etwa äußerte sich in der "Süddeutschen Zeitung" mit den Worten: "Da trifft sich Frau Ueberschär mit dem rechten Flügel des außenpolitischen Establishments Deutschlands." Auch jetzt ist es Jürgen Trittin, der Robert Habeck anlässlich der Ukraine-Äußerungen in Interviews an die Beschlusslage der Grünen erinnert. Es dürfte noch viel Streit geben vor der Bundestagswahl.

Der Politologe Throsten Benner sagt dazu: "Nach wie vor gibt es in der Partei Leute wie Jürgen Trittin mit einem reflexhaften Anti-Amerikanismus". Ueberschär sei besonders rüde angegangen worden. Habeck und Baerbock hielten sich zumindest öffentlich raus. "Außer von den Europaparlamentariern Reinhard Büttikofer und Sergey Lagodinsky wurde sie von führenden Grünen auffallend wenig verteidigt."

Eine andere ideologische Begründung

Tatsächlich wirbt der frühere SPD-Politiker und heutige grüne Europaparlamentarier Lagodinsky besonders deutlich für den neuen Transatlantik-Kurs seiner Partei. Im Gespräch mit t-online sagt er: "Das heutige transatlantische Verhältnis der Grünen beruht nicht mehr auf den Mustern aus dem Kalten Krieg." Es gebe heute eine andere ideologische Begründung und diese sei "die eines liberal-demokratisch geprägten Anti-Autoritarismus." Lagodinsky hatte sich in der Vergangenheit insbesondere in Fragen zu Russland immer wieder für einer härtere Gangart ausgesprochen.

"Transatlantische Partnerschaft bedeutet heute deutlich mehr als nur Nato und Sicherheitskooperation", sagt er. Es gehe heute um eine tiefgehende Zusammenarbeit in allen politischen Bereichen. So stehe man in Fragen zu Klima, Demokratie und Technologie vor dermaßen großen Herausforderungen, "dass uns die USA nicht wegbrechen dürfen".

Ob die Grünen heute die besseren Transatlantiker sind? "Ich würde nicht sagen, dass die transatlantische Agenda von uns Grünen besser ist als die der CDU, aber wir vervollständigen sie um die wichtigen Aspekte des Klimaschutzes, der Zivilgesellschaft, des Anti-Rassismus, der LGBTIQ-Rechte und des Feminismus", sagt Lagodinsky.

Neue Goldstandards setzen mit Europa

Dass die Grünen trotz aller Sympathie für die USA trotzdem maßgeblich auf die Souveränität der Europäischen Union setzen wollen, versuchen sie derzeit mindestens genauso stark zu betonen. Tatsächlich haben sich Grüne auf EU-Ebene aber ebenfalls schon Respekt in den USA für ihre Arbeit erworben. So prägte Jan Philipp Albrecht, Habecks Nachfolger als Umwelt- und Digitalminister in Schleswig Holstein, zu seiner Zeit als Europaparlamentarier maßgeblich die europäische Datenschutzgrundverordnung (DSGVO).

Tim Cook, CEO von Apple, bezeichnete sie als Vorbild für einen globalen Datenschutz. Es ist der Traum vieler Grüner, mit der EU weitere "Goldstandards" zu setzen, bei denen die USA im besten Fall mitziehen, wie etwa die Besteuerung von Digitalkonzernen oder der Verfolgung von Cyber-Kriminalität.

Streitfrage Zwei-Prozent-Ziel und Atomwaffen

Doch es gibt auch entscheidende Punkte, die noch zu Schwierigkeiten mit den Amerikanern führen könnten. Kritiker der Grünen-Außenpolitik haben Annalena Baerbock in den vergangenen Wochen immer wieder vorgehalten, sie sei realitätsfern. Selbst Bundeskanzlerin Angela Merkel soll sich in einer Unions-Fraktionssitzung geäußert haben, Baerbock und die Grünen könnten das Zwei-Prozent-Ziel der Nato nicht einfach so wegwischen. Auch die Zukunft der nuklearen Teilhabe stellen die Grünen in Frage und fordern stattdessen eine europäische Sicherheitsarchitektur. Wie das den Amerikanern, aber auch den Franzosen und insbesondere den osteuropäischen Staaten erklärt werden soll, ist vollkommen offen.

"Auch wenn die Grünen in vielen inhaltlichen Punkten bei der Biden-Regierung anknüpfen können, stehen sie ihrer Haltung zum Nato-Zwei-Prozent-Ziel, zu bewaffneten Drohnen und zur nuklearen Abschreckung diametral zum sicherheitspolitischen Ansatz der USA und anderer Verbündeter wie Frankreich", sagt der Politologe Thorsten Benner. Hier biete sich durchaus eine Angriffsfläche für den CDU-Kanzlerkandidaten Armin Laschet im Bundestagswahlkampf.

Mehr noch als einst Joschka Fischer

Vor mehr als 20 Jahren stellte man sich in Deutschland, bei den Verbündeten und im Rest der Welt die Frage, ob die Grünen und ihr damaliger Vorsitzender Joschka Fischer Außenpolitik überhaupt können. Auch dieses Mal könnten die Grünen, wenngleich als deutlich stärkerer Koalitionspartner als Zweite ins Ziel laufen und Anspruch auf das Außenministerium anmelden und müssen für ihre Kompetenz werben.

Doch 2021 geht es um mehr. Die Grünen und ihre Kandidatin wollen ins Kanzleramt. Sie wissen zudem, dass das Zeitfenster mit den USA unter einem ihnen geneigten Joe Biden nur äußerst klein sein könnte. Die Grünen müssen deshalb heute noch viel mehr überzeugen als einst Joschka Fischer – die Verbündeten, die eigene Partei und die Wähler. Sergey Lagodinskys Antwort darauf ist: "Die Amerikaner sind sehr interessiert an uns Grünen, aber wer ist das unter den gegebenen Umständen nicht."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Telefoninterview mit Sergey Lagodinsky (Grüne)
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