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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verhandlungen im Vatikan? "Das wäre ein absolutes Novum"

Kommt es im Vatikan zu einer historischen Premiere? Der Kirchenstaat könnte zum Schauplatz von Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland werden.
Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump sitzen sich auf zwei goldenen Stühlen mit roten Sitzbezügen dicht an dicht gegenüber. Mit ernstem Blick schauen sie einander in die Augen. Das Foto der beiden Staatsführer, das am Rande der Trauerfeier für Papst Franziskus entstand, ging um die Welt.
Doch nun könnte der Vatikan erneut Schauplatz der Weltpolitik werden. Denn der Heilige Stuhl steht italienischen Regierungsangaben zufolge als Gastgeber für Verhandlungen über eine Waffenruhe zwischen den Kriegsparteien Russland und Ukraine bereit.
- Kommentar: Für Putin könnte es nicht besser laufen
Papst Leo XIV. habe gegenüber der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni seine Bereitschaft erklärt, "anstehende Gespräche zwischen den Parteien im Vatikan auszurichten", teilte Melonis Büro mit. Die Ministerpräsidentin habe dem Papst für sein "unerschütterliches Engagement für den Frieden" gedankt, hieß es weiter. Zudem habe Meloni am Dienstag mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und mehreren weiteren Spitzenpolitikern gesprochen, um eine "enge Koordinierung" im Hinblick auf mögliche Friedensverhandlungen aufrechtzuerhalten.
Wie stehen die Chancen für Verhandlungen im Vatikan?
US-Präsident Donald Trump und Russlands Staatschef Wladimir Putin hatten am Montag ihr drittes Telefonat zum Ukraine-Krieg geführt. Der US-Präsident erklärte im Anschluss, Moskau und Kiew könnten "sofort" Verhandlungen über eine Waffenruhe beginnen. Putin sagte, Russland sei bereit, gemeinsam mit der ukrainischen Regierung ein "Memorandum" zur Vorbereitung eines "möglichen künftigen Friedensabkommens" zwischen beiden Staaten auszuarbeiten.
- Vermittler, Missionar, gemäßigter Reformer: Das ist der neue Papst Leo XIV.
Doch dass tatsächlich ein Friedenstreffen im Vatikan stattfindet, daran zweifeln Experten. Der renommierte Vatikanexperte Andreas Englisch sagte t-online: "Ich halte es für riskant, sich darauf zu verlassen, dass ein Treffen zwischen Putin und Selenskyj im Vatikan zustande kommt." Und weiter: "Die Chancen dafür stehen maximal bei 30 Prozent. Und selbst dann ist nicht gesagt, ob ein solches Gespräch Erfolg hat."
Der Politikwissenschaftler Mariano Barbato, der unter anderem zur internationalen Politik des Heiligen Stuhls forscht, sagte t-online: "Es wäre ein absolutes Novum, dass sich zwei Staatsoberhäupter zu einer Friedensverhandlung im Vatikan treffen." Es habe zwar ein Treffen der palästinensischen und israelischen Seite im letzten Pontifikat gegeben, bei dem gemeinsam ein Friedensbaum gepflanzt wurde, "aber das war eher eine symbolische Handlung", so Barbato. Seine Einschätzung: "Dass der Vatikan zum Schauplatz von Friedensverhandlungen werden könnte, ist neu."
Dass sich der Heilige Stuhl in Friedensbemühungen einbringt, ist nicht überraschend. Das Gegenteil wäre es wohl. "Benedikt XV. hat im Ersten Weltkrieg versucht, zu schlichten, doch ist gescheitert. Damals entstand aber der Nimbus des Papstes als Friedensstifters", erklärt Barbato. Seitdem gehört der Wille, für Frieden zu sorgen, quasi zur Jobbeschreibung des Papstes. "Der Heilige Stuhl versteht sich immer als Friedensvermittler", so Barbato weiter.
"Die katholische Kirche muss glaubwürdig sein"
Päpste haben sich in mehreren Fällen als Vermittler in internationalen Konflikten hervorgetan. Ein bedeutendes Beispiel ist die Rolle von Papst Johannes Paul II. im Territorialkonflikt zwischen Argentinien und Chile gegen Ende der 1970er Jahre: Beide Länder konnten mithilfe vatikanischer Vermittlung einen Krieg verhindern und ein Abkommen schließen.
Auch während der Kuba-Krise 1962 wirkte der Heilige Stuhl deeskalierend, indem Papst Johannes XXIII. einen eindringlichen Appell zum Frieden an die Konfliktparteien richtete. Jahrzehnte später spielte Papst Franziskus, selbst Argentinier, eine zentrale Rolle bei der Annäherung zwischen Kuba und den USA, bei der er als moralische Instanz und diskreter Vermittler hinter den Kulissen wirkte.
Der Vatikanexperte Englisch erklärt es folgendermaßen: "Die katholische Kirche muss glaubwürdig sein und den Menschen klarmachen, wofür sie da ist. Es ist daher in ihrem eigennützigen Interesse, sich um Frieden zu bemühen."
Auch für die Kriegsparteien – insbesondere den Kreml – könnten Verhandlungen im Vatikan eine Möglichkeit sein, einen Frieden entsprechend in Szene zu setzen. "Es geht um eine gesichtswahrende Lösung für Putin. Putin muss den Frieden als Sieg verkaufen. Da könnte die Bühne Vatikan durchaus helfen", sagt Barbato. "Die Frage ist: Wollen die Kriegsparteien die Bühne jetzt nutzen? Kommt Putin jetzt in den Vatikan? Trump weiß um die Inszenierung, die ein solches Treffen im Petersdom hat." Ein Beispiel ist das jüngste Treffen zwischen ihm und Selenskyj, bei dem das viel beachtete Foto der beiden entstand.
Sollte Putin sich tatsächlich auf einen Deal einlassen wollen, könnte er die Bühne des Vatikans dafür nutzen, erklärt Barbato. Der Experte verweist auch auf die Kubakrise. Damals hätte Nikita Chruschtschow etwas Vergleichbares getan, als er den päpstlichen Friedensappell in der Parteizeitung veröffentlichen ließ. "Das ist dem in der Sowjetunion verwurzelten Putin präsent", er könne letztlich auf diese Weise "eine Art 'Gottesfrieden' inszenieren", so Barbato.
Klar ist laut dem Experten aber ebenfalls: "Putin und Selenskyj werden sich nur dann im Vatikan treffen, wenn dort auch ein Abkommen geschlossen wird. Nur in dem Fall werden sie die große Bühne Vatikan nutzen."
Will Putin den Krieg beenden?
Allerdings ist fraglich, ob sich Putin darauf einlassen will. Delegationen aus Russland und der Ukraine hatten in der vergangenen Woche zwar zum ersten Mal seit mehr als drei Jahren direkte Gespräche geführt. Die Gespräche in Istanbul endeten aber ohne Annäherung in der Frage einer Waffenruhe. Die Konfliktparteien einigten sich zwar auf einen Gefangenenaustausch und erörterten ein mögliches Treffen zwischen Putin und Selenskyj – doch es gab kaum Anzeichen für Fortschritte zur Beendigung des Krieges.
Immerhin nützt der Krieg Putin – so hat der Kremlchef die russische Wirtschaft voll auf Krieg eingestellt. Einfach zurückdrehen kann er das nicht. Auch konnte Putin zuletzt mehrere militärische Erfolge in der Ukraine für sich verbuchen. Experten glauben, dass Russlands Staatschef immer noch von einem Sieg ausgeht – und daher nicht an den Verhandlungstisch kommen wird.
Der Kreml wies derweil am Mittwoch Vorwürfe der Ukraine und Europas zurück, wonach Putin die Friedensgespräche verzögere. Er erklärte, der russische Präsident werde seine Bedingungen für eine Waffenruhe nennen – ohne jedoch Angaben zu einem Zeitpunkt zu machen. Auch über einen Austragungsort für mögliche Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine ist nach Aussage des Kreml bislang nicht entschieden worden.
US-Präsident Donald Trump hat laut einem Bericht des "Wall Street Journal" den Wunsch geäußert, die Gespräche zwischen Russland und der Ukraine auf niedrigerer diplomatischer Ebene rasch fortzusetzen – und zwar im Vatikan. Die Gespräche sollen demnach Mitte Juni beginnen. Während eines Telefongesprächs mit europäischen Regierungschefs soll Trump angekündigt haben, US-Außenminister Marco Rubio sowie den US-Sondergesandten für die Ukraine, Keith Kellogg, zu den Gesprächen entsenden zu wollen.
Experte: "Leo XIV. wird ein Friedensabkommen um jeden Preis versuchen"
Der Heilige Stuhl wird seine Bemühungen in jedem Fall intensivieren, meinen die Experten. Vatikankenner Englisch dazu: "Papst Leo XIV. wird ein Friedensabkommen zwischen der Ukraine und Russland um jeden Preis versuchen." Das habe der Pontifex zuletzt immer wieder betont, etwa bei seiner ersten Generalaudienz. "Dass Papst Leo XIV. den Krieg beenden will, da habe ich nicht den geringsten Zweifel daran", so Englisch.
Bereits sein Vorgänger hatte versucht, einen Waffenstillstand oder gar möglichen Frieden zwischen Russland und der Ukraine zu vermitteln. "Franziskus hatte einen direkten Draht zum Patriarchen Kyrill aufgebaut und gepflegt, in der Hoffnung, dass dieser Druck auf Putin ausübt", sagt Englisch. Das habe aber "nicht geklappt, auch weil Kyrill früher selbst beim KGB war und voll hinter dem Krieg in der Ukraine steht".
Englisch zieht daher ein ernüchterndes Fazit: "Franziskus' Friedensbemühungen sind außer bei der Rückholung von Russland verschleppter Kinder ins Leere gelaufen. Daher muss man deutlich sagen: Franziskus ist mit seiner Friedensstrategie insgesamt gescheitert."
Eine praktische Frage ist noch zu klären
Ein Versuch des neuen Pontifex Leo XIV. könnte dennoch von Erfolg gekrönt sein, so Englisch. "Eines vergessen wir: Im Ukraine-Krieg töten Christen Christen. Es ist ein rein christlicher Krieg. Selbst wenn es um orthodoxe Christen geht: Der Papst hat dennoch einen großen Einfluss in der Kirche. Er passt in die neutrale, von beiden Seiten respektierte Vermittlerrolle."
Auch der Politologe Barbato sagt: "Ich würde die Person Leo XIV. nicht unterschätzen. Bereits als Präfekt des Dikasteriums für die Bischöfe musste er diplomatisch agieren." Der Präfekt des Dikasteriums für die Bischöfe ist der oberste Verantwortliche im Vatikan, wenn es darum geht, neue Bischöfe auszuwählen und Fragen zur Leitung der Diözesen zu regeln.
Klar sei Barbato zufolge: "Es gibt sehr viele Konflikte. Leo XIV. wird noch genug Zeit haben, sich zu bewähren. Doch ein solches Treffen wäre ein unglaublicher Auftakt für sein Pontifikat. Die klare Ansage von ihm ist: Er will als Friedenspapst eine Agenda setzen." An diesem Narrativ werde Leo XIV. stricken.
Eine ganz praktische Frage gibt es aber noch zu klären: Immerhin liegt gegen Wladimir Putin ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Den Haag vor. Italien als Mitglied des IStGH müsste Putin bei der Landung in Rom eigentlich verhaften. Dort liegt der einzige Zugang zum Kirchenstaat, welcher vollständig von der italienischen Hauptstadt umschlossen wird.
Barbato sieht hier aber kein Problem. "Italien wird einem solchen Treffen nicht im Wege stehen", sagt er. "Wenn Putin in den Vatikan reisen wollte, wird er das können. Italien wird den Haftbefehl nicht ausführen und Putin nicht verhaften."
- Eigene Recherche
- Gespräch mit Andreas Englisch
- Gespräch mit Mariano Barbato
- unn.ua: "Negotiations between Ukraine and Russia: WSJ learns they may continue in the Vatican in mid-June" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen AFP und Reuters