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Historische Flüchtlingszahlen wegen des Ukraine-Krieges: Wo bleibt der Plan?


Wo bleibt der Plan?

Von Camilla Kohrs

Aktualisiert am 22.03.2022Lesedauer: 6 Min.
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Erstversorgung am Berliner Hauptbahnhof: Tausende ukrainische Geflüchtete sind in den vergangenen Tagen in Deutschland angekommen.Vergrößern des Bildes
Erstversorgung am Berliner Hauptbahnhof: Tausende ukrainische Geflüchtete sind in den vergangenen Tagen in Deutschland angekommen. (Quelle: Marius Schwarz/imago-images-bilder)

Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,

schon jetzt erleben wir die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Mehr als drei Millionen Menschen haben die Ukraine bereits verlassen. Das merken wir auch in Deutschland: Jeden Tag kommen bis zu 15.000 Menschen an, viele davon in Berlin.

Während zuerst vor allem Menschen nach Deutschland flohen, die hier Freunde und Verwandte haben, kommen nun immer mehr, die weitaus hilfsbedürftiger sind: Sie kennen hier niemanden, sind von den Tagen und Wochen im Krieg schwer traumatisiert oder einfach mittellos. Die ukrainische Währung Hrywnja kann nämlich nicht mehr in Euro gewechselt werden, weil die Banken das Geld nicht mehr zurücktauschen können.

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Die Berliner Jugend- und Familiensenatorin Astrid-Sabine Busse wies außerdem darauf hin, dass unter den Ankommenden die Zahl von Waisenkindern, alleinreisenden Minderjährigen, Schwerkranken und Menschen mit Behinderungen steigt.

Folgt man den Prognosen von Experten und Politikern, ist das erst der Anfang. Denn der russische Präsident Wladimir Putin lässt die Zivilbevölkerung in der Ukraine immer gnadenloser bombardieren, die Offensive auf die Millionenstadt Odessa hat gerade erst begonnen.

Außenministerin Annalena Baerbock schätzt mittlerweile, dass insgesamt acht bis zehn Millionen Menschen in die Mitgliedstaaten fliehen werden. Die Bundesregierung geht davon aus, dass rund eine Million nach Deutschland kommt, Union und Polizeigewerkschaft rechnen mit weit mehr. Die Zeit drängt. Die großen politischen Antworten aber fehlen sowohl auf Bundes- als auch auf EU-Ebene. Und das dürfte bald zum Problem werden.

Schauen wir zunächst auf die EU. Bislang sind die meisten Menschen in den EU-Nachbarstaaten der Ukraine untergekommen. Nur einige andere Länder haben verbindliche Zusagen gemacht, größere Zahlen von Flüchtenden aufzunehmen. Baerbock will das ändern – und skizzierte vor dem Treffen der EU-Außen- und Verteidigungsminister in Brüssel gestern, wie eine große europäische Antwort aussehen könnte. "Wir brauchen eine solidarische Luftbrücke von der EU-Außengrenze in alle europäischen Länder und über den Atlantik", sagte sie da. Ukrainische Geflüchtete müssten von den Hotspots aus nach ganz Europa verteilt werden – jedes Land müsse sich daran beteiligen und Hunderttausende aufnehmen. Auch der Nicht-EU-Staat Moldau, in dem sehr viele ukrainische Geflüchtete ankommen, müsse mit dieser Luftbrücke unterstützt werden.

Damit schloss sich die Bundesregierung einem Vorschlag des Migrationsforschers Gerald Knaus an, der vergangene Woche eine solche Luftbrücke gefordert hatte. "Es geht darum, Menschen zu helfen, den Westen als Wertegemeinschaft wiederherzustellen und auf menschenverachtenden Zynismus mit Humanität zu antworten", schreibt der Forscher in seinem Beitrag (den können Sie hier lesen). Eine gemeinsame, starke Antwort der EU sei auch deswegen notwendig, weil Putin darauf hoffe, "dass die Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor seinen Bomben fliehen, schon bald die europäischen Gesellschaften destabilisieren". Und dieser Plan müsse dringend scheitern.

So logisch das klingt: Die EU-Staaten tun sich schwer mit einer gemeinsamen Lösung. Das zeichnete sich schon in den vergangenen Tagen ab. Der "Spiegel" berichtete mit Bezug auf Diplomaten und einen vertraulichen Bericht der deutschen EU-Vertretung, dass sich bei Gesprächen in der vergangenen Woche Gräben auftaten. Während Griechenland, Italien und Luxemburg auf konkrete Planungen zu Unterbringungen drängten, sahen Ungarn, Polen, die Slowakei, Slowenien und Finnland eine europäische Lösung als gar nicht notwendig an.

Ausgerechnet die Staaten lehnen eine gemeinsame Lösung ab, die derzeit am meisten Menschen aufnehmen? Auf den ersten Blick klingt das merkwürdig. Doch offenbar lauert dort die Angst, dass ein solcher Schritt zu einem gemeinsamen europäischen Asylsystem führen könnte – welches vor allem Länder in Osteuropa seit Langem ablehnen. Ein Brüsseler Diplomat sagte dem "Spiegel" mit Blick auf Polen: "Sobald sie darum bitten müsste, dass andere Länder Flüchtlinge aufnehmen, ist eine Tür geöffnet, die die polnische Regierung geschlossen halten will."

Das gestrige Treffen der Außen- und Verteidigungsminister brachte trotz Baerbocks Ankündigung eher ernüchternde Ergebnisse. Im Anschluss sagte Baerbock, sie habe vorgeschlagen, in der EU Verteilzentren für Geflüchtete aufzubauen und habe dafür "viel Zuspruch" erhalten. Außerdem wollen Deutschland, Frankreich und Rumänien eine Hilfsplattform für Moldau schaffen. Die große Antwort auf die Krise aber blieb aus – und die viel beschworene Einigkeit der EU beginnt zu bröckeln.

Und in Deutschland? Natürlich gibt es auch Probleme: Bei den Registrierungen kam es teils zu sehr langen Wartezeiten, da Personal, aber auch die nötige Technik fehlen, wie die "Welt" kürzlich berichtete.

Die Unterbringung bei Privatpersonen birgt ebenfalls Gefahren: Die Polizei und Freiwillige warnen davor, dass vor allem geflüchtete Frauen und Kinder Menschenhandel und anderen Verbrechen zum Opfer fallen könnten.

Vieles aber läuft heute besser als noch 2015 und 2016. Freiwillige haben innerhalb kürzester Zeit Strukturen aufgebaut, mit denen sie Ankunft, Erstversorgung und Unterbringung organisieren. Das ist nicht nur ein unglaubliches Engagement seitens der Zivilbevölkerung – es hat den Kommunen auch Zeit verschafft, damit diese nachziehen können.

Vielerorts sind große Notunterkünfte entstanden. In Berlin etwa, vor sechs Jahren noch durchgehend wegen der chaotischen Zustände vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales in den Nachrichten, wurde mit Unterstützung vom Bund innerhalb von zwei Wochen ein riesiges Ankunftszentrum am ehemaligen Flughafen Tegel errichtet. 10.000 Menschen am Tag können hier registriert werden – und dann weiter in andere Orte Deutschlands und Europas gebracht werden.

Was am dringendsten fehlt, ist eine übergreifende Steuerung der Bundesregierung. Zwar wird gerade an einer Verteilung von den großen Zentren auf die Bundesländer gearbeitet. Viele andere Fragen sind allerdings ungeklärt: Etwa, wie lückenlos registriert werden kann. Wie verhindert werden kann, dass die Ankommenden Opfer von Verbrechen werden. Wie die Freiwilligen unterstützt werden können, damit deren Hilfsbereitschaft nicht verpufft. Woher Hunderttausende oder gar mehr als eine Million Betten kommen sollen.

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Auch die Frage, wer was bezahlt, ist noch offen. Bislang haben die Bundesländer lediglich die Zusage erhalten, dass der Bund sie unterstützt – in welchem Ausmaß aber soll erst am 7. April abschließend geklärt werden.

Vorschläge haben Opposition und Hilfsorganisationen bereits geliefert – und die Rufe nach dem Bund werden immer lauter. CDU-Chef Friedrich Merz forderte gestern etwa einen Flüchtlingsgipfel im Kanzleramt, NRW-Integrationsminister Joachim Stamp von der FDP einen laufenden Krisenstab, in dem neben Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen auch große Unternehmen und Hilfsorganisationen sitzen.

So oder so: Was in den kommenden Wochen passieren wird, dürfte alle europäischen Fluchtbewegungen in den vergangenen Jahrzehnten weit übersteigen. "Historisch" ist ein Wort, das in diesem Zusammenhang oft fällt. Und historische Situationen bedürfen bekannterweise historischer Antworten. Zeit, dass Bund und EU auch liefern.


Lange Haft für Nawalny?

Etwas mehr als ein Jahr ist es her, dass der russische Oppositionelle Alexej Nawalny in sein Heimatland zurückkehrte – und direkt festgenommen wurde. Mehrere Monate war er zuvor nach einer Vergiftung in Deutschland behandelt worden. Seitdem muss sich Nawalny verschiedenen Gerichtsverfahren stellen.

Heute nun fällt im Prozess wegen angeblicher Veruntreuung von Geldern ein Urteil. Vor einem unabhängigen Gericht hätten diese Vorwürfe vermutlich keinen Bestand, die zuständige Staatsanwaltschaft hat allerdings 13 Jahre Haft beantragt. Milde wird Nawalny angesichts der Situation in Russland wohl nicht erwarten können.


Die weiteren Termine

Die erste Tesla-Fabrik in Europa wird eröffnet. Bundeskanzler Olaf Scholz und Wirtschaftsminister Robert Habeck kommen zu diesem Anlass ins brandenburgische Grünheide, zudem soll es eine Demonstration verschiedener Bürgerinitiativen gegen die Elektroautofabrik geben.

Im Bundestag stellt Finanzminister Christian Lindner um 10 Uhr den Haushaltsplan für 2022 vor, danach debattieren die Abgeordneten darüber.

Wer heute fliegen will, könnte Probleme bekommen: Die Gewerkschaft Verdi hat das Luftsicherheitspersonal zu einem ganztägigen Streik aufgerufen.


Was lesen?

Wer kennt ihn nicht, den berühmten Film Schindlers Liste? 1993 war er ein großer Erfolg, ein Jahr später wurde er hochgeehrt. Mehr erfahren Sie hier.


Der Krieg in der Ukraine wirkt festgefahren: Die russischen Truppen verzweifeln am erbitterten Widerstand, den die Ukrainer leisten. Wie könnte der Konflikt weitergehen? Meine Kollegen Lisa Becke und Tim Kummert geben Ihnen einen Überblick. Mit jedem weiteren Tag Krieg bekommt auch China immer größere Probleme. Warum, das hat unser USA-Korrespondent Bastian Brauns im Interview mit zwei Asien-Experten erfahren.


Olaf Scholz hat für die "Zeitenwende" viel Lob erhalten. Doch wer sich seine bisherige Amtszeit anschaut, stellt fest: Er selbst hat die Wende noch nicht geschafft. Eine Rekonstruktion meiner Kollegen Miriam Hollstein, Sven Böll, Fabian Reinbold und Johannes Bebermeier.


Trotz des Erfolgs unter Felix Magath gerät die Stimmung beim Bundesligaverein Hertha BSC erneut in Schieflage. Investor Lars Windhorst schießt gegen den Präsidenten Werner Gegenbauer. Ist er tatsächlich der Schuldige? Darüber debattieren meine Kollegen Florian Wichert und Robert Hiersemann im Zweikampf der Woche.

Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Dienstag. Morgen schreibt an dieser Stelle wieder Florian Harms für Sie.

Ihre

Camilla Kohrs
Redakteurin Politik/Panorama
Twitter: @cckohrs

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Mit Material von dpa.

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