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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russischer Angriffskrieg "Die Lage ist ernst"
Die Lage für die Ukraine ist ernst: Die russische Armee greift an, verfügt über mehr Feuerkraft und Munition. Wladimir Putin gibt sich selbstsicher. Zu Recht?
Es sind öffentlichkeitswirksame Erfolge, die momentan Hoffnung geben. So gelang es ukrainischen Spezialtruppen offenbar in dieser Woche, mit Seedrohnen ein weiteres russisches Kriegsschiff zu versenken. Der mögliche Verlust der mit Raketen bestückten Korvette "Iwanowez" wäre ein schwerer Schlag für Wladimir Putins Schwarzmeerflotte. Zwar ändert der Verlust eines Schiffes nichts am Kriegsgeschehen, doch die ukrainische Führung braucht für die Moral in diesem Kriegswinter Erfolge.
Denn an den Fronten ist die Lage für die ukrainischen Verteidiger weiter ernst. Die russische Armee ist in der Offensive und die Ukraine ringt auch weiterhin mit einem großen Munitionsmangel. Trotzdem beißen sich auch Putins Truppen die Zähne aus.
Der Militär- und Russland-Experte Gustav Gressel spricht über die aktuelle Kriegssituation und über Putins Hoffnung, dass ihm am Ende ausgerechnet Donald Trump die Ukraine schenken wird.
t-online: Herr Gessel, die russische Armee ist im Krieg in der Ukraine aktuell in der Offensive. Wie ist die aktuelle Lage?
Gustav Gressel: Die Lage ist ernst. Die russische Winteroffensive geht zwar nur langsam voran und die Anzahl der Angriffe und die Intensität gingen zuletzt etwas zurück, aber die ukrainischen Verteidiger sind noch immer in einer schwierigen Situation.
Warum?
Die ukrainische Armee hat noch immer Munitionsprobleme und Russland hat vor allem im Bereich der Artillerie große Vorteile. Die russische Artillerie ist für die ukrainische Armee oft außer Reichweite ukrainischer Drohnen. Deswegen macht sich in dem Bereich die größere Feuerkraft der Russen aktuell sehr deutlich bemerkbar. Dagegen gelingt es der Ukraine weiterhin gut, gepanzerte Fahrzeuge außer Gefecht zu setzen.
Gustav Gressel
ist als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.
Wie sehen die russischen Angriffe denn aktuell aus?
Begleitet von schwerem Artilleriefeuer und unterstützt durch Kampfpanzer arbeiten sich kleine Stoßtrupps an die ukrainischen Stellungen heran. Mittlerweile greifen sie nur noch in Kompaniestärke an, also mit bis zu circa 150 Soldaten. Aber sie verschießen momentan sehr viel Munition aus dem Iran und aus Nordkorea.
Aber die ukrainischen Stellungen halten bisher stand?
Ja. Zwar hat die ukrainische Armee einige Stellungen verloren, aber sie verliert immer nur wenige Hundert Meter. Bislang ist Wladimir Putins Winteroffensive nicht erfolgreich. Der russischen Armee ist es nicht gelungen, Awdijiwka einzukesseln. Auch im Nordosten geht es nur sehr langsam voran. Es gibt zwar russische Geländegewinne, aber die müssen aktuell die Ukraine noch nicht groß aus der Fassung bringen.
Wie ist die Lage in Awdijiwka?
Das Herzstück der ukrainischen Verteidigung hier ist das Kokswerk im Nordwesten. Dort sind die Verteidigungsstellungen auch weiterhin in Takt. Im Südosten der Stadt ist die Lage dagegen problematischer, weil sich die Holzhäuser dort nur wenig zum Stellungsbau eignen. Viele dieses Gebäude wurden mittlerweile durch Artillerie komplett zerstört. Es ist eine Trümmerwüste.
Ist Putins Winteroffensive also gescheitert?
Zumindest hat Russland diese Offensive verfrüht begonnen. Als die Russen die ukrainische Gegenoffensive im vergangenen Jahr abgewehrt haben, hat sich Putin stark gefühlt, obwohl seine Armee zuvor noch in der Verteidigung war. Aber es gelang ihr 2023, ihre Verteidigungsfähigkeiten im effektiven Zusammenspiel von Drohnen und Artillerie deutlich zu verbessern. Aber im Angriff schaffen sie das noch nicht.
Das bedeutet?
Die russische Armee hat zwar eine Feuerüberlegenheit und verfügt über mehr Kräfte. Aber sie wartet nicht auf eine ausreichende Ausbildung der eigenen Soldaten und sie überlegt nicht genau, wie sie diese Kräfte vernünftig einsetzen kann. Deswegen gelingen Russland keine Durchbrüche und die Ukraine schafft es wiederum, viel russisches Gerät zu zerstören.
Kurz gesagt: Putin verheizt auch weiterhin seine Soldaten?
Putin verheizt weiterhin seine Soldaten und er kann noch geraume Zeit Menschen und Material verheizen.
Wie geht es mit Blick auf diese Situation jetzt weiter?
Diese russische Offensive scheint kulminiert. Die Russen werden wahrscheinlich keine großen Durchbrüche erzwingen können. Ihre Angriffskraft lässt nun nach und bis in den Februar wird die russische Offensive auslaufen. Dann wird das Wetter ohnehin wieder schlechter und in Russland stehen im März die Präsidentschaftswahlen an. Im Frühling oder im Frühsommer könnte es die russische Armee dann erneut probieren.
Aber möchte Putin nicht bis zur Wahl Erfolge präsentieren?
Es gab Gerüchte, dass der Kreml bis zur russischen Präsidentschaftswahl den kompletten Donezker Oblast erobert haben wollte. Aber das klappt nicht. Deswegen glaube ich nicht, dass es ein konkretes Ziel gibt. Putin wird keinen großen Sieg präsentieren können, der die Nationalisten in Russland jubeln lässt. Dafür müsste er Charkiw, Odessa und am besten Kiew einnehmen. Awdijiwka kennen viele Russen dagegen nicht. Deswegen glaube ich nicht, dass Kriegserfolge bei dieser Wahl eine große Rolle spielen.
Ist das nicht eine Niederlage für den russischen Präsidenten?
Momentan sieht es noch nicht nach einem Sieg für Putin aus. Die Ukraine schafft es, sechs- bis zehnmal mehr Mannschaften und Gerät auszuschalten, als sie verliert. Die Ressourcenknappheit spielt Putin in die Karten, aber es ist aus seiner Sicht ein langfristiger Krieg, der noch bis in die Jahre 2027 oder 2028 gehen könnte. Der russische Präsident hat eine langfristige Erschöpfungsniederlage im Visier.
In einem Gespräch mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping soll Putin gesagt haben, dass der Krieg noch bis ins Jahr 2025 geht.
Das wäre für Putin das Optimum, aber das ist wenig realistisch. Dieses Szenario wäre nur realistisch, wenn Donald Trump die US-Präsidentschaftswahl gewinnen würde und die Amerikaner sich dann aus der Ukraine-Hilfe zurückziehen. Wenn die Europäer dann auch weniger tun, geht Putins Rechnung auf. Dann würde er die Ukraine schon 2025 erdrücken.
Würde Trump die Ukraine fallen lassen?
Keine Ahnung. Trump ist nicht berechenbar und das ist das Problem. Auch die Republikanische Partei hat sich verändert und viele Konservative, die sich für Härte gegenüber Russland aussprechen, sind nun nicht mehr da. Die klassischen Republikaner sind am Aussterben. Stattdessen sind dort nun viele Neurechte, die selbst Teil von Trumps Propagandablase sind und die dem ehemaligen US-Präsidenten nach dem Mund reden. Und sie alle sehen die US-Initiative für die Ukraine als viel zu teuer an und als nicht im Interesse der Vereinigten Staaten. Eine Trump-Rückkehr würde also eine komplett unberechenbare Situation mit sich bringen und darauf baut Putin.
Was bedeutet dieses Szenario für Deutschland und Europa?
Die Europäer müssen sich Ideen zurechtlegen, wie sie im Notfall ohne die Amerikaner zurechtkommen. Schon jetzt könnten beispielsweise Lieferverträge mit den USA abgeschlossen werden, die auch Trump nach einer möglichen Rückkehr nicht einfach ignorieren könnte. Das wäre zum Beispiel bei der Patriot-Flugabwehr wichtig, die zwar bald in Deutschland produziert wird, aber fertige Raketen gibt es erst 2030. Lieferverträge könnte man Trump dann unter die Nase halten.
Geht es denn ohne die Amerikaner?
Die Europäer stellen momentan Weichen, um mehr Souveränität zu erlangen. Aber das geht nicht von heute auf morgen und braucht teilweise viel Zeit. Bei der Artilleriemunition könnte man die Ukraine beispielsweise bis zum Ende des Jahres aus eigener Produktion unterstützen. Aber in anderen Einzelbereichen wäre das sehr schwierig.
Das könnte wiederum Putin dazu motivieren, die Wahlen in den USA zu beeinflussen.
Natürlich werden russische Bots und Trolle im Internet für Trump mobilisieren. Aber Joe Biden könnte die Wahl nicht verlieren, weil Russland Einfluss genommen hat. Im Jahr 2016 waren die USA und die US-Geheimdienste komplett unvorbereitet auf die Art der Einflussnahme, aber das ist nun anders. Die großen Konflikte in der US-Gesellschaft haben nichts mit Russland oder Putin zu tun. Trumps Anhänger glauben dem früheren US-Präsidenten mehr als den Behörden. Das bedeutet: Selbst, wenn das FBI weitere Russland-Kontakte des Trump-Lagers offenlegen würde, schadet das ihm offenbar nicht wirklich. Putin muss also gar nicht viel tun.
Glauben Sie denn, dass Deutschland ausreichend auf russische Einflussnahme vorbereitet ist? Immerhin sind auch in diesem Jahr wichtige Wahlen.
Nein. Die Behörden kämpfen durch den Datenschutz hier teilweise mit stumpfen Waffen. Es ist schwieriger, Einflussnahme aufzudecken und zu bekämpfen. Natürlich nützt Russland große gesellschaftliches Unsicherheiten in Deutschland aus – die Debatte um Migration oder die wirtschaftlichen Probleme. Der Bundesregierung fehlen leider Konzepte, dem zu begegnen. Deshalb fallen russische Narrative in Deutschland teilweise auf fruchtbaren Boden. Aber die Behörden können auch wenig tun. Zuletzt wurde bekannt, dass ein AfD-Mitarbeiter ein russischer Spion ist.
Wie groß ist denn der Einfluss des Kremls auf die AfD?
Die fortlaufende Orientierung in Richtung Russland ist Teil des Radikalisierungsprozesses der AfD. In ihrer Gründungszeit gab es noch viele Transatlantiker in der Partei, aber die moderaten Mitglieder sind nun fast alle raus. Jetzt haben die "Putinversteher" das Sagen in der AfD. Dabei könnte Russland natürlich auch durch persönliche Kontakte und durch indirekte Geldgeber Einfluss nehmen. Aber es gibt auch einfach rechtsautoritäre Kräfte in der Partei, die die Westanbindung Deutschlands nach 1945 rückabwickeln möchten. Natürlich finden die Putin gut – und der Kreml müsste dafür gar nicht zahlen.
Spannungen scheint es momentan aber nicht nur in Deutschland oder in den USA zu geben, sondern auch in der Ukraine. Wie bewerten Sie den Streit zwischen dem ukrainischen Präsident Wolodymyr Selenskyj und seinem Generalstabschef Walerij Saluschnyj?
Diese Spannungen sind nicht neu. Für das Ukraine ist das natürlich nicht hilfreich. Ein Problem: Das Präsidialamt mischt sich oft in Dinge der Kriegsführung ein und das führt in der Armee natürlich zu Kritik.
Können Sie Beispiele nennen?
Es gibt einfach Situationen, da gibt es zwischen Militär und Politik einfach unterschiedliche Motivationen für Entscheidungen. Saluschnyj zum Beispiel wollte eine frühere Generalmobilmachung und einen früheren Abzug aus Bachmut, weil die Verluste zu hoch wurden. Selenskyj dagegen war jeweils aus politischen Gründen dagegen.
Warum?
Er hatte Angst, dass eine frühere Mobilmachung dem internationalen Ansehen der Ukraine schaden und die diplomatische Lage deutlich schwieriger werden würde. Als der Generalstab die Aufgabe von Bachmut forderte, war er auf einer Reise in den USA. Dort wollte er Stärke demonstrieren und nicht vor dem US-Kongress eine Niederlage einräumen und somit weitere US-Unterstützungen gefährden. Es kommt also immer wieder zu Reibereien.
Dennoch scheint Saluschnyj in der ukrainischen Bevölkerung und im Westen sehr beliebt.
Er ist ja auch ein sehr umgänglicher Mensch. Und das ist noch wichtiger: Saluschnyj ist ein Befehlshaber, der sehr darauf bedacht ist, nicht zu viele ukrainische Soldaten zu opfern. Das unterscheidet ihn von Putin. Zwar hat Selenskyj natürlich das Recht, seinen Generalstabschef zu entlassen. Aber das könnte zu großen Moralproblemen in der ukrainischen Armee führen.
Hat Saluschnyj vielleicht eigene politische Ambitionen?
Nein. Ich halte ihn nicht für einen politischen Menschen, das ist nicht sein Ding. Doch er hat hohe Zustimmungsraten und das sieht das Präsidialamt mit Sorge.
Jetzt haben wir darüber gesprochen, dass Russland in der Offensive ist, über Uneinigkeit im Westen und über Streit in der Ukraine. Gibt es denn auch irgendwas, dass zur Gefahr für Putin werden könnte?
Putin fühlt ist momentan sehr selbstsicher, aber ich halte diesen Optimismus für etwas übereilt. Er könnte sich zu früh freuen, denn die Munitionssituation wird sich im zweiten Halbjahr 2024 für die Ukraine deutlich verbessern. Es dauert leider immer zu lange, bis im Westen Entscheidungen getroffen werden. Aber genau in dieser Phase zeigt sich, dass Russland eigentlich nicht verhandeln will. Warum sollte Putin verhandeln, wenn er mehr als 18 Prozent des Nachbarlandes bekommen kann? Er hofft darauf, dass Trump ihm die Ukraine schenkt.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.
- Gespräch mit Gustav Gressel