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9-Euro-Ticket: Das Bahn-Chaos wird jetzt nur schlimmer – kollektives Versagen


Das Ende des Versprechens
Das Bahn-Chaos wird jetzt nur schlimmer


Aktualisiert am 16.06.2022Lesedauer: 5 Min.
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Großer Andrang: Für die Sommermonate hat die Bahn extra Züge im Einsatz, um den Andrang über das 9-Euro-Ticket zu decken.Vergrößern des Bildes
Großer Andrang: Für die Sommermonate hat die Bahn zusätzliche Züge im Einsatz, um den Andrang durch das 9-Euro-Ticket zu decken. (Quelle: Arnulf Hettrich/imago-images-bilder)

"Danke für Ihre Geduld". Das 9-Euro-Ticket zeigt die Probleme der Deutschen Bahn: jahrzehntelange Versäumnisse, schlechtes Management, Sparzwang. Die Entschlüsselung eines kollektiven Versagens.

Pünktlichkeit hat die Deutsche Bahn stets etwas eigenwillig definiert: Rollt ein Zug weniger als sechs Minuten zu spät am Gleis ein, gilt er als rechtzeitig angekommen – egal, ob die Passagiere durch die kleine Verspätung dennoch den Anschluss verpassen, weil der Zug mal wieder am falschen Gleis einfährt, die Wagenreihung verkehrt ist oder die Tür defekt.

Ursprünglich sollten in diesem Jahr 80 Prozent der Fernverkehrszüge nach dieser Regel pünktlich ankommen – doch bereits vor der absehbaren Überlastung des Schienennetzes durch das 9-Euro-Ticket gab die Bahn das Ziel auf. Pünktlichkeit sei in diesem Jahr nicht möglich, selbst der Güterverkehr könnte zum Teil zurück auf die Straße verlagert werden, gab der Konzern Ende Mai zu.

Das bedeutet: mehr Lkws auf deutschen Autobahnen mitten in der Feriensaison plus Verspätungen auf der Schiene.

Die Verkehrswende, so scheint es, rückt damit in weite Ferne – und das, obwohl der Bund allein im vergangenen Jahr knapp neun Milliarden als Investitionszuschuss an die Bahn überwies. Auch in diesem Jahr fließen weitere 13,6 Milliarden in die Infrastruktur.

Niemand ist zufrieden mit der Bahn

Und dennoch ist keiner zufrieden: weder die Kunden noch die Wirtschaft noch die Bahn selbst. Erst kürzlich soll Ralf Kloß, Produktionsvorstand bei der Güterbahn DB Cargo, in einer internen Nachricht gesagt haben, dass die Logistiksparte dem "kompletten Super-GAU" gerade so entkommen sei.

Auch die Ampel hält sich mit Kritik nicht zurück. Der bahnpolitische Sprecher der Grünen, Matthias Gastel, sieht die Verantwortung vor allem bei der vorherigen Regierung. "Drei Unionsbundesverkehrsminister waren einfach zu viel für das deutsche Schienennetz", sagt er t-online. "Sie haben ein einziges bahnpolitisches Trümmerfeld hinterlassen."

Doch wie ist es dazu gekommen, dass ein Unternehmen, das einst international einen hervorragenden Ruf besaß, jetzt als "Trümmerfeld" wahrgenommen wird? Und warum schafft es die Bahn nicht, trotz immer neuer Milliardenförderung den Weg wieder freizuräumen für die grüne Verkehrswende?

Tatsächlich liegt die Ursache in einem Gemisch von Herausforderungen und Fehlern der Vergangenheit:

1. Dem Investitionsstau bei der Bahn

Vieles muss bei der Bahn erneut werden – hier rächen sich Jahrzehnte, in denen der Bund und Konzern die Infrastruktur vernachlässigt haben. "Personalmangel, defektes Material, fehlende Züge, die DB gibt schon lange ein desaströses Bild ab", beklagt der Vorsitzende der Lokführergewerkschaft GDL, Claus Weselsky, im Gespräch mit t-online.

Zugegeben, einer wie Weselsky muss das sagen, das gehört zu seinem Job. Fakt aber ist: 2020 lag das Durchschnittsalter der Stellwerke der Bahn bei 49 Jahren, die ältesten Vertreter stammen sogar noch aus der Kaiserzeit – und haben damit mehrere Staatsformen und Weltkriege überstanden.

Hinzu kommt, dass die Bahn viele Strecken und Gleise aufgegeben hat. "Auf diesem geschrumpften Netz fahren heute so viele Züge wie nie zuvor. Dies beschleunigt die Abnutzung", erklärt Grünen-Politiker Gastel die Abwärtsspirale der Bahn der vergangenen Jahre. Weselsky formuliert seine Kritik noch deutlicher: "Der DB-Konzern schützt nicht, wie in der Verfassung verlangt, die Infrastruktur, er zerstört sie."

Mit milliardenschweren Investitionen will die Bahn den Rückstand aufholen. In diesem Jahr plant die Bahn nach eigenen Angaben, rund 1.800 Kilometer Gleise, 2.000 Weichen, 140 Brücken und 800 Bahnhöfe für etwa 13,6 Milliarden Euro zu sanieren.

Ab 2024 soll dann die komplette Generalsanierung kommen – mit weitreichenden und schmerzhaften Sperrungen auf den wichtigen Verkehrsstrecken. "Die Kunden werden durch ein Tal der Tränen gehen müssen", sagte dazu Klaus-Dieter Hommel, Vorsitzende der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG). Denn es gibt in dem überlasteten Netz kaum noch Ausweichrouten.

Die Bahn wird also noch voller, noch langsamer, noch unpünktlicher, ehe es hoffentlich besser läuft. "Es wird wohl erst schlechter werden müssen, damit es besser werden kann. Das ist die bittere Wahrheit", sagt auch Michael Theurer (FDP), Bahnbeauftragter der Bundesregierung, auf Anfrage von t-online.

2. Ein wechselndes und viel kritisiertes Management

Auch das Management steht in der Kritik, und das seit Jahren. Die Töne werden dabei auch aus dem Aufsichtsrat immer schärfer, selbst öffentlich schießen viele Aufseher gegen die Spitze. "Das ist hier inzwischen eine einzige Katastrophenveranstaltung", kritisierte Bahn-Aufsichtsrat und Gewerkschafter Klaus-Dieter Hommel bereits 2018.

Der Zusammenhalt ist seitdem nicht gewachsen, im Gegenteil. Die Geduld mit Bahnchef Richard Lutz geht vielen nach knapp fünf Jahren ohne nennenswerte Fortschritte offenbar aus. Dieser kämpft mit einer Vielzahl an Problemen, ganz vorne steht die zersplitterte Struktur der Bahn.

"Das Management muss sich um Hunderte von weltweiten Konzernbeteiligungen und Arrangements kümmern, statt sich auf das Kerngeschäft, die Bahn in Deutschland, konzentrieren zu können", sagt Gastel. Zwischen diesen Sparten gebe es nur mangelnde Absprachen, die Konsequenz sei ein "katastrophales Baustellenmanagement".

Pofalla verabschiedete sich vor dem Sturm

Auch bei der Belegschaft stoßen die Strukturen auf Kritik. "Die Bahn muss aufhören, weltweit in oft bahnfernen Projekten Geld zu verbrennen", sagt GDL-Chef Claus Weselsky, t-online. Die Ampelkoalition will bei ihrer Reform nun die Infrastruktursparten zusammenlegen. Die Ergebnisse dürften aber erst in einigen Jahren sichtbar werden.

Doch damit nicht genug. Während sich der Sturm der Kritik gegen die Bahn bereits zusammenbraute, verließ ausgerechnet die Person, die die ganzen Versäumnisse erklären müsste, das Unternehmen: der ehemalige CDU-Politiker und Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla. "Vom neuen Infrastrukturvorstand erwarte ich als Schienenverkehrsbeauftragter eine schonungslose Bestandsaufnahme", sagt Michael Theurer (FDP), Bahnbeauftratgter der Bundesregierung, t-online.

Klar ist damit: Das Management der Bahn trifft nach Ansicht vieler Beobachter eine vergleichsweise große Schuld. "Es kann nicht sein, dass Züge in großer Zahl Tage oder gar Wochen stehen. Wenn so etwas passiert, dann liegt der Fehler im System", urteilt auch Theurer. Die Kritik an der Spitze des Staatskonzerns dürften in den kommenden Monaten nicht leiser werden.

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3. Größerer Andrang im Cargo- und Personenbereich

Weg von der Straße, rauf auf die Schiene – die grüne Verkehrswende baut in der Logistik zu einem großen Teil auf die Deutsche Bahn. Aber: Eine umfassende Sanierung des gesamten Systems, während immer mehr Unternehmen und Privatmenschen auf die Bahn umsteigen, muss zwangsläufig zur Überlastung führen.

Das 9-Euro-Ticket wirkt dabei wie ein Brennglas. Es übt zusätzlichen Druck auf ein System aus, das eh schon an seiner Kapazitätsgrenze kratzt und den gesteigerten Andrang nur mit zusätzlichen Zügen auffangen kann. Dadurch bleibt aber wieder weniger Platz auf den Schienen für den Gütertransport.

Die Folge? Weitere Verspätungen und mangelnde Planungssicherheit. Mittlerweile lehnt die Bahn sogar Aufträge von Unternehmen ab, Bahnchef Lutz warnte bereits, dass ein Teil des Güterverkehrs wieder zurück auf die Straße kommen müsste.

Das hätte spürbare Auswirkungen: Laut der GDL ersetzt ein Güterzug zwischen 40 und 52 Lkws auf den Straßen. Die Klimaziele lassen sich so nicht erreichen, Wunsch und Realität klaffen bei der Bahn weit auseinander. Die Verkehrswende steht die kommenden Jahre vorerst auf dem Abstellgleis.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Schriftliches Statement von Matthias Gastel
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