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Nach Flugzeug-Eklat in Belarus: Das ist eine billige Täuschung


Nach Flugzeug-Eklat in Belarus
Das ist eine billige Täuschung

MeinungVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 26.05.2021Lesedauer: 8 Min.
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Verbunden in Abhängigkeit: Putin bringt das Lukaschenko-Regime immer mehr unter seine Kontrolle.Vergrößern des Bildes
Verbunden in Abhängigkeit: Putin bringt das Lukaschenko-Regime immer mehr unter seine Kontrolle. (Quelle: imago-images-bilder)

Die Sanktionen gegen Belarus nach der Entführung des Ryanair-Fliegers beeindrucken Machthaber Lukaschenko nicht. Ihre Doppelmoral steht der EU im Weg, von dem Konflikt profitiert Russland. Europa braucht einen Strategiewechsel.

Die Entführung des Ryanair-Flugzeugs durch das Lukaschenko-Regime in Belarus war ein dreister Angriff auf europäische Werte. Das hatte es zuvor noch nie gegeben: Ein Linienflug zwischen zwei europäischen Hauptstädten wird unter einem Vorwand abgefangen, von einem Kampfflugzeug nach Minsk begleitet und zur Landung gezwungen. Ein regimekritischer Blogger wird aus der Maschine der europäischen Airline gezerrt und verhaftet. EU-Politiker reagieren wütend, von "Luftpiraterie" und Flugzeugentführung ist die Rede, danach einigen sich die Mitgliedstaaten auf scharfe Sanktionen gegen Belarus.

Machthaber Alexander Lukaschenko sieht sich dagegen als Opfer, hält das Vorgehen von Belarus für rechtmäßig. Er machte am Mittwoch klar: Die EU würde mit ihrer Kritik "rote Linien" überschreiten. Zuvor veröffentlichte Belarus Funkmitschnitte aus der Kommunikation zwischen den Ryanair-Piloten und der Flugsicherheit. Sie sollen laut den belarussischen Behörden belegen, dass das Flugzeug nicht unter Druck gelandet sei, doch stattdessen war in den Mitschnitten deutlich zu hören, wie überfordert die belarussische Flugverkehrskontrolle (FVK) im Gespräch mit skeptischen Piloten war. Die kläglichen Täuschungsmanöver des Lukaschenko-Regimes sind daher vor allem eines: unfassbar peinlich.

Jedes Täuschungsmanöver ist dabei eine erneute Provokation für die EU. Sie weiß eigentlich: Die Strafmaßnahmen werden den Diktator nicht zum Umdenken bewegen. Am Ende sind die Sanktionen nicht mehr als Symbolpolitik, kaum wirksame Maßnahmen, die aber trotzdem wichtig für Europa sind. Es geht schließlich auch um die Integrität Europas und um rote Linien, die die EU ziehen muss, damit sich derartige Vorfälle nicht wiederholen werden.

Dabei müssen die EU-Staaten aber auch auf sich schauen, Glaubwürdigkeit gewinnen, indem sie Doppelmoral in ihrem Handeln vermeiden. Wenn sie es ernst meinen, müssen sie vor allem den Druck auf Russland erhöhen, denn eine isolierte Diktatur in Belarus ist vor allem im Interesse des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der EU fehlt bislang der Willen, sich dem Triumph des Kremlchefs entgegenzustellen.

Geheimdienste: Wir kriegen euch, egal wo ihr seid

Das Problem für die EU ist somit viel größer als die aktuelle Krise in Belarus. Lukaschenko ist ein Diktator, aber nicht komplett irrational. Er wird sich über die Reaktion der EU vor der Operation bewusst gewesen sein. Es ist unwahrscheinlich, dass er sich dafür nicht die Rückendeckung aus Russland geholt hat oder sich zumindest sicher war, dass er sie bekommen würde. Ohne Unterstützung wäre es ein Himmelfahrtskommando gewesen und Lukaschenko legt eigentlich nur gegenüber dem Kreml Rechenschaft ab. Sein Land ist abhängig vom großen Nachbarn, nur der Gnade Putins ist es zu verdanken, dass er noch an der Macht ist. Der russische Präsident und Lukaschenko haben eine Gemeinsamkeit: Beide wollen um jeden Preis ihre Macht erhalten, beide gehen dafür über Leichen.

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Ihre Racheoperationen mithilfe von Geheimdiensten werden zunehmend zur Seuche für Europa. Nach der Jagd auf Menschen durch den russischen Geheimdienst FSB auf europäischem Boden, geht nun auch das belarussische Pendant – der KGB – während eines innereuropäischen Fluges gegen Regimekritiker vor. Ihre Botschaft an die politischen Gegner im Land: Wir kriegen euch, egal wo ihr seid. Sanktionen nehmen wir dafür in Kauf.

Russland streitet eine Verwicklung in die belarussische KGB-Operation zur Verhaftung des Bloggers Roman Protassewitsch ab. Eine Beteiligung lässt sich aktuell nicht nachweisen. Trotz der engen Beziehungen beider Länder kamen FSB und KGB lange Zeit nicht gut miteinander aus. Der KGB kritisierte stets die Einmischung des russischen Geheimdienstes in die inneren Angelegenheiten von Belarus.

Märchen macht selbst Terrororganisation fassungslos

Das Verhältnis änderte sich erst im Zuge der Massenproteste in Belarus teilweise. Lukaschenko setze Iwan Tertel als KGB-Chef ein, dem vergleichsweise gute Beziehungen zum FSB nachgesagt werden. Es ist denkbar, dass der Kreml Lukaschenko bei der Niederschlagung der Proteste unterstützte und der FSB dafür mehr Freiheiten in Belarus bekam. So gab beispielsweise der russische Geheimdienst im April 2021 bekannt, dass ein Anschlag auf Lukaschenko vereitelt wurde.

Die Festnahme von Protassewitsch trägt die Handschrift einer Operation russischer Geheimdienste: Erst ein dreister Angriff, danach wurde der internationalen Gemeinschaft ein Märchen aufgetischt. So soll laut belarussischen Behörden eine Bombendrohung der Hamas dafür verantwortlich gewesen sein, dass die Ryanair-Maschine in Minsk notlanden musste. Das Ende ist bekannt: An Bord war keine Bombe, aber der 26-jährige Blogger. Kein Zufall, sondern mutmaßlich eine KGB-Operation.

Als angeblichen Beweis präsentierte das Regime in Belarus den entsetzten Europäern ein Schreiben der Terrororganisation. "Wir, Soldaten der Hamas fordern, dass Israel die Angriffe auf den Gazastreifen einstellt." Problem für Belarus: Es gab zum Zeitpunkt des Fluges bereits eine Waffenruhe und keine Angriffe im Gaza-Krieg mehr. Das lief offenbar bei der Planung des Geheimdienstes schief. In der EU hat das Märchen von Anfang an eigentlich niemand geglaubt.

Warum sollte die Hamas einen Flug von Griechenland nach Litauen angreifen? Warum sollte sie an Belarus schreiben? Das ergibt keinen Sinn und selbst die Terrororganisation aus dem Gazastreifen schien überrascht und hat eine Beteiligung am Dienstag abgestritten. Der klägliche Täuschungsversuch ist fast schon die nächste Respektlosigkeit des Regimes gegenüber der EU.

Bruch mit dem Westen, zur Freude Putins

Die Beziehungen zwischen Belarus und Europa hatten sich im Jahr 2020 rapide verschlechtert. Es waren auch der Wahlbetrug bei der Präsidentschaftswahl von Lukaschenko und die anschließenden Proteste, die das Regime in Belarus weiter vom Westen entfernten. In Europa unvergessen sind die Polizeigewalt auf den Straßen von Minsk sowie die Folter, von der verhaftete Demonstranten berichteten. Es war Lukaschenko, der mit einem Maschinengewehr in der Hand über die Proteste flog und sagte: "Da laufen sie, diese Ratten." Das führte europäischen Politikern vor Augen, dass der Diktator, der schon knapp 27 Jahre an der Macht ist, einen großen Teil seiner Bevölkerung verachtet.

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Lukaschenko versuchte stets davon zu profitieren, dass er sich wahlweise Russland oder dem Westen annäherte. Diese Strategie funktioniert seither nicht mehr, die EU erkannte seine Wiederwahl zu Recht nicht an. Der Diktator scheint einfach abzuwarten, bis man irgendwann wieder mit ihm spricht.

Putin teilt die Sorgen des Westens dagegen nicht. Er geht ähnlich gegen seine Kritiker in Russland vor, auch bei seinen Wahlen gab es oft Ungereimtheiten. Deswegen möchte er um jeden Preis eine erfolgreiche Demokratiebewegung in Belarus verhindern, diese könnte sich auf sein Land ausweiten. Er möchte Lukaschenko an der Macht halten, weil er ihn kontrollieren kann und sieht die ehemalige Sowjetrepublik Belarus ohnehin als russisches Einflussgebiet. Er warnte den Westen stets vor der Einmischung in die inneren Angelegenheiten des kleinen Landes. Seine Lesart: Das darf nur der Kreml.

Russland hat den Schlüssel zu einer Lösung

Die belarussische Wirtschaft ist ohnehin hochgradig von Russland abhängig und jeder Konflikt mit dem Westen treibt Lukaschenko weiter in die Arme von Moskau. Dadurch kann sich der Diktator zwar an die Macht klammern, seine Stimme hat in Verhandlungen mit Russland aber kaum noch Gewicht. Es wirkte fast schon tragisch für einen Staatschef, wie Putin ihn während der Proteste 2020 nach Moskau zitierte, um ihm zu erklären, dass er mit seinem Volk reden soll.

Der Kreml schien zu dem Zeitpunkt bereit, auch mithilfe von russischem Militär für Ruhe in Belarus zu sorgen, Panzer an der Grenze waren zugleich Drohung für die Bevölkerung als auch für Lukaschenko, der durch eine russische Intervention noch mehr zur Marionette Putins geworden wäre. Lange hatte er sich damit gebrüstet, dass er seine Bevölkerung vor diesem Szenario beschützt. Hätte er nun russische Soldaten für seinen Machterhalt gebraucht, wäre das ein massiver Gesichtsverlust gewesen.

Lukaschenko will also um jeden Preis an der Macht bleiben, danach bestenfalls seinen Sohn Nikolai (16) als Nachfolger einsetzen. Der Machthaber von Belarus ist Isolation gewöhnt, mit Sanktionen der EU scheint er klarzukommen. Putin dagegen will die komplette Abhängigkeit des Regimes von Russland, was er im Prinzip erreicht hat. Nur er hat den Schlüssel zu einer Lösung, die EU müsste Gespräche mit Moskau führen. Das allerdings erscheint aussichtslos.

Eine Chance ist zweifelsohne der Gipfel zwischen Putin und US-Präsident Joe Biden im Juni. Durch die Lage in Belarus hat der russische Präsident zuvor nun den Einsatz erhöht, den er neben der Ukraine und Syrien als Verhandlungsmasse auf den Tisch legen kann.

Ein "Nordkorea" mitten in Europa

Denn es ist im russischem Interesse, Belarus zu einem "Nordkorea" mitten in Europas zu machen. Der Vergleich ist nicht weit hergeholt: Auch Nordkorea ist isoliert, das Regime komplett abhängig von China.

Diktatur, Folter, Menschenrechte sind Nebensache, sie unterliegen dem Selbstverständnis der Großmächte, Kontrolle über andere Staaten auszuüben. Diese Strategie funktioniert seit vielen Jahren auf unterschiedlichen Kontinenten, auch der Westen und vor allem die USA nutzen Abhängigkeiten von Staaten, um sich Kontrolle zu sichern.

Doch Länder wie Russland, China oder auch die Türkei haben gelernt, dass die Werte der westlichen Staaten immer ein Preisschild haben. So war die Entrüstung in der EU über die Ryanair-Entführung groß, die Appelle zur Freilassung von Protassewitsch seitens führender Politiker wie Kanzlerin Angela Merkel laut. Aber die Geschichten wiederholen sich: Seitdem Lukaschenko an der Macht ist, werden Journalisten und Regimekritiker verhaftet, gefoltert und getötet. Das ist nicht neu, die meiste Zeit interessiert sich Europa nur nicht dafür. Auch das Interesse an der Protestbewegung in Belarus versiegte innerhalb Europas schnell, trotz Sanktionen gegen einzelne Politiker des Regimes und gegen Lukaschenko selbst.

EU-Kommissarin: "Tolle Nachrichten für alle"

Dabei wird die EU auch mit einem traurigen Eingeständnis konfrontiert: Nach dem Vorfall von Minsk wurde die erzwungene Notlandung mehr skandalisiert als die Verhaftung des Bloggers, der, wenn sich Lukaschenko selbst treu geblieben ist, nur unter Folter sein Geständnis per Video am Dienstag in die Welt geschickt hatte. "Tolle Nachrichten für alle, insbesondere für die Familien und Freunde der Menschen an Bord", twitterte die EU-Verkehrskommissarin Adina Vălean, nachdem das Flugzeug wieder starten durfte. Das sorgte zu Recht für einen Eklat, kurz zuvor war der Blogger Protassewitsch aus eben diesem Flugzeug gezerrt worden. Wir wissen zwar nicht viel über sein aktuelles Schicksal, aber das Vorgehen der Sicherheitsbehörden ist durch die Aussagen ehemaliger Häftlinge zahlreich dokumentiert.

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Die EU muss sich selbst die Frage stellen, welchen Stellenwert das Wertebündnis in ihrer Außenpolitik hat. Und welchen Preis sie dafür bereit ist zu bezahlen? Einerseits ist es falsch, aktuelle Verbrechen durch Staaten zu legitimieren, nur weil man es in der Vergangenheit versäumt hat.

So stellen pistolenartig auch einige deutsche Politiker Vergleiche zur erzwungenen Landung des damaligen bolivianischen Präsidenten Evo Morales in Wien 2013 her – in dem Flieger hatten die USA den Whistleblower Edward Snowden vermutet. Natürlich sollte das Schicksal von Snowden diskutiert werden, aber im Angesicht der aktuellen Ereignisse ist das nur eine Form des "Whaboutism" – also jener Vergleiche, die wir stets bei Donald Trump kritisierten. Ein Unrecht der Gegenwart darf niemals durch ein Unrecht der Vergangenheit relativiert werden.

Schädliche Doppelmoral der EU

Letztlich ist es allerdings auch eine Doppelmoral, die der EU schadet. Die Staatengemeinschaft hätte auch Wirtschaftssanktionen gegen Belarus verhängen oder nutzen können, dass das Lukaschenko-Regime für den Zugang zur Ostsee auf Litauen angewiesen ist. Stattdessen feiert EU-Ratspräsident Charles Michel auf Twitter, dass auf dem Flugradar keine Flüge mehr über Belarus zu sehen sind.

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Klar, die Flugverbote für belarussische Airlines und die Meidung des belarussischen Luftraums durch europäische Fluggesellschaften sind harte Sanktionen, aber einen Effekt gibt es bislang nicht – und deshalb auch keinen Grund zur Freude.

Im Gegenteil: Europäische Werte verblassen oft dort, wo es teuer wird für die Wirtschaft oder dort, wo Kompromisse innerhalb der EU schwer zu finden sind. So ist es bei den Geflüchteten am Mittelmeer oder bei den zahlreichen politischen Häftlingen, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Gefängnisse gesteckt hat. Das wissen auch Diktatoren wie Lukaschenko, der auch in Zukunft testen wird, ob die EU ihre roten Linien nur auf dem Papier zieht.

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