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Rekonstruktion des Zoff-Gipfels: Wie kam es zum Super-Lockdown über Ostern?


Rekonstruktion des Zoff-Gipfels
Wie kam es zum Super-Lockdown über Ostern?

  • Annika Leister
Von Annika Leister

Aktualisiert am 23.03.2021Lesedauer: 6 Min.
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"Wir sind in einer sehr ernsten Lage": Hier verkündet Kanzlerin Merkel die neuen Corona-Beschlüsse, darunter auch verschärfte Maßnahmen zu Ostern. (Quelle: t-online)

Nie stand ein Corona-Gipfel so kurz vorm Scheitern, nie wurden überraschendere Beschlüsse gefasst: Wie Merkel sich in der Verhandlungsnacht durchsetzte, wer gegen sie aufbegehrte – und welcher Bundesminister nicht liefern konnte.

Mehr als zwölf Stunden Verhandlung. Noch nie dauerte eine Bund-Länder-Schalte in dieser Pandemie länger, nie stand sie so kurz vorm Scheitern – und nie überraschte das abschließende Dokument so sehr. Begleitet von Hoffnungen auf Schnelltests, Familientreffen und Urlaub zur Osterzeit startete die Ministerpräsidentenkonferenz – nach einer stundenlangen Beratung in stark verkleinerter Runde kommt am Ende der Oster-Super-Lockdown heraus, ein strenges Herunterfahren des gesamten Landes über die Feiertage. Was das genau bedeutet, lesen Sie hier.

Wer brachte die entscheidende Wende? Wer protestierte? Wer verlor die Nerven? Eine Rekonstruktion.

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Schon der Start ist holprig: Eine Stunde später als angesagt kommt die große Runde aus Kanzlerin, Bundesministern und Ministerpräsidenten am Montag um kurz nach 15 Uhr zusammen. Grund für die Verspätung sind vorherige Konferenzen zwischen den Ländern. Man diskutiert noch über eine Urlaubsregelung im Inland, Auslandsflüge nach Mallorca und eine mögliche nächtliche Ausgangssperre für Hotspots, die die Kanzlerin vorab ins Spiel gebracht hat.

Vor allem vier Länderchefs drängen auf Lockerungen

Doch die Positionen zwischen Bund und Ländern, auch zwischen den Länderchefs, gehen weit auseinander. Die Ministerpräsidenten lehnen eine breite Ausgangssperre ab, für einige Länder kommt auch keine Verschärfung der Maßnahmen in Frage.

Es finden sich stattdessen parteiübergreifende Bündnisse für Lockerungen: Vor allem Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther, Sachsen-Anhalts Reiner Haseloff (beide CDU), Mecklenburg-Vorpommerns Manuela Schwesig und für Rheinland-Pfalz Malu Dreyer (beide SPD) drängen in der großen Runde auf Erleichterungen für Bürger, Tourismus und Gastronomie. Sie wollen Urlaub im eigenen Bundesland ermöglichen, in Ferienwohnungen oder mit dem Camper, oder wollen – wie Dreyer für ihr Land bereits am Montag umgesetzt hat – die Außengastronomie öffnen unter Verwendung von Schnelltests.

Schnelltests sind ohnehin die große Hoffnung vieler Ministerpräsidenten: Sie sollen Lockerungen trotz hoher Inzidenzen ermöglichen. Weil eine Teststrategie des Bundes weiter fehlt, hat fast jeder Länderchef inzwischen einen eigenen Schnelltest-Vorschlag in der Tasche. Prominent haben sie die "Türöffner"-Strategien in den letzten Tagen in Interviews verkauft. Ein kleiner Stimmungsaufheller bei der aktuell miesen Laune bundesweit, und sei er auch noch so unrealistisch, das sollte wohl das Signal sein.

In der Mallorca-Debatte kann Scheuer nicht liefern

Außerdem immer wieder ein populäres Argument der Lockerungs-Fraktion in der Corona-Sitzung: Mallorca. Schließlich seien Flüge zur Ballermann-Insel wegen niedriger Inzidenzwerte seit Mitte März wieder ohne Test- und Quarantänepflicht erlaubt. Warum der Urlaub in Deutschland dann verboten bleibt, sei nicht nachvollziehbar, nicht erklärbar, finden Günther, Haseloff und Co. Wenigstens getestet werden müssten Mallorca-Rückkehrer, egal, wie niedrig die Inzidenz auf der Insel liegt, findet Dreyer.

Doch in der Praxis sind die Schnelltests für viele Bundesbürger noch keine Selbstverständlichkeit, die notwendige Infrastruktur in vielen Ländern nicht vorhanden. Das liegt am Bund, aber auch an den Ländern selbst. Vor allem aber liegen die Infektionszahlen in den meisten Ländern so hoch, dass sich Experimente zum "Türöffnen" mit Blick auf vorherige Absprachen verbieten.

Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) soll in der Mallorca-Frage rasch klären, ob nicht die Fluggesellschaften Passagiere bei der Einreise testen könnten. Scheuer wurde, neben Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), Anfang März zum Kopf einer "Schnelltest-Taskforce" ernannt. Doch das Ergebnis bleibt dünn: Scheuer sagt, er habe nicht alle Fluglinien erreicht bisher, die Lufthansa sei wohl dazu bereit. Merkel kommentiert bissig: "Immerhin hast du mit einer Airline telefoniert", wie "Spiegel Online" berichtet.

Braun und Merkel pochen auf Zahlen, Fakten, Inzidenzen

Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) kommt beim Corona-Gipfel wie der Kanzlerin die Rolle zu, Hoffnungen zu zerschlagen, die Ministerpräsidenten zu erden. Er zeigt Grafiken zur Pandemie und betont den Ernst der Lage. Deutschland liegt mit Stand von Montag bundesweit bei einer Inzidenz von 107 Infektionen pro 100.000 Einwohnern. Zehn Bundesländer überschreiten die von der Ministerpräsidentenkonferenz zuletzt selbst gesetzte 100er-Grenze. Thüringen liegt sogar bei einem Wert über 200.

Zeit, die vereinbarte Notbremse zu ziehen, fordert die Kanzlerin eindringlich. Zeit, sich an den eigenen Beschluss von Anfang März zu halten. Zeit auch für weitere, schärfere Maßnahmen. Sie erhält Unterstützung von Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Hamburgs Erstem Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD).

Doch es geht weiter um Ostern, Urlaub, Mallorca. Die Nordländer haben ihren Bürgern in den letzten Tagen einiges in Aussicht gestellt. Die Inzidenzwerte liegen bei ihnen zum Teil noch zwischen 50 und 100. In Mecklenburg-Vorpommern ist im September außerdem Landtagswahl, in Rheinland-Pfalz hat Malu Dreyer gerade große Zustimmung erhalten. Man steht beim Wähler in der Pflicht, mögen die Fallzahlen in Rest-Deutschland auch deutliche Stoppschilder setzen. Die Nordländer drohen schließlich, mit einer Protokollnotiz im Beschlusspapier aus einem gemeinsamen Kurs auszuscheren.

"Das ist nicht die richtige Antwort auf die Lage"

Es ist der Punkt, an dem Merkel einschreitet, an dem die Kanzlerin ein Machtwort spricht. "Das ist nicht die richtige Antwort auf die Lage", sagt sie, wie Medien berichten. Und weiter: "Ich glaube nicht, dass man damit vor der Öffentlichkeit bestehen kann."

Sie warnt davor, dass ganz Deutschland bei Werten wie in Thüringen liegt, weit über den 200, wenn das Land so weitermacht. Dass man sich schon jetzt in exponentiellem Wachstum befindet. "Ich habe nichts in der Hand, was mich daran glauben lässt, dass es nicht so kommt. Nichts."

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Merkel, die Physikerin, hat das Worst-Case-Szenario für Feiertage schon einmal im Winter, vor Weihnachten, in der Tendenz richtig skizziert. Für Ostern gelten keine anderen Regeln. Sie zieht schließlich die Reißleine, würgt die Diskussionen in großer Runde ab.

Radikaler Oster-Vorschlag wird spät in einer Viererrunde geboren

Weiterdiskutiert wird von nun an in einer kleinen Viererrunde. Vier Stunden lang wird diese Beratung dauern. Erst hier wird wohl der Plan geboren, Deutschland über Ostern dichtzumachen. Vorab gab es auf zusätzliche "Ruhetage" keine Hinweise.

Merkel setzt sich zusammen mit Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz (SPD), Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD). Mit Müller und Söder hat Merkel zwei Ministerpräsidenten an ihrer Seite, die trotz unterschiedlicher Parteizugehörigkeit zurzeit ähnlich ticken: Die Fallzahlen liegen in ihren Bundesländern über oder knapp vor dem Grenz-Inzidenzwert 100. Stärker als andere Ministerpräsidenten warnen die beiden davor, leichtsinnig zu lockern und drängen auf das Einhalten der Notbremse.

Vier Stunden lang diskutieren Merkel, Scholz, Söder und Müller. Die Bildschirme bei den Ministerpräsidenten bleiben derweil schwarz. Das Chef-Quartett kehrt in die große Runde zurück mit dem ganz neuen Plan: Alle Betriebe und Geschäfte sollen über die Ostertage, zwischen dem 1. und 5. April, schließen.

Nicht nur mit Außengastronomie und "Click & Meet" im Einzelhandel soll dann Schluss sein – auch Supermärkte und Lebensmittelhändler sollen zu machen. Fünf Tage komplette Zwangspause für Deutschland, das ist der radikale Vorschlag der Viererrunde.

"Aus gutem Grund": Spahn widerspricht Merkel

Eine Überraschung für die große Runde. Sie splittet sich wieder in kleinere Runden auf: Die SPD-geführten Länder diskutieren heftig mit dem linken Thüringer Landeschef Ramelow, die CDU-geführten Länder mit dem Grünen Winfried Kretschmann. Vor allem die Idee, auch Supermärkte zu schließen, stößt bei vielen auf Bedenken.

Auch Gesundheitsminister Jens Spahn schaltet sich an diesem Punkt ein, wie die "Welt" berichtet. Man habe bisher "aus gutem Grund" in der gesamten Pandemie noch nie Supermärkte geschlossen, erinnert Spahn. Merkel lenkt ein.

Supermärkte dürfen auch am Karsamstag öffnen, hält der Beschluss später fest. Alles andere aber soll schließen. Merkel nennt es später eine "Ruhepause". "Es gilt damit an fünf zusammenhängenden Tagen das Prinzip #WirBleibenZuHause", heißt es in dem finalen Papier.

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Auch für das große, strittige Thema "Mallorca" findet man eine Zwischenlösung, einen Kompromiss, weil Scheuer nicht liefert: Bund und Länder appellieren im Beschlusspapier an die Fluggesellschaften, keine zusätzlichen Flüge mehr für die Osterferien anzubieten. Zudem soll für alle Flüge aus dem Ausland nach Deutschland perspektivisch eine generelle Testpflicht vor Abflug eingeführt werden.

Haseloff steht beim Homeoffice auf Seite der SPD

An einem Punkt aber, der eine Verschärfung der Regeln bedeutet, zieht Merkel nicht mit, da verweigert sich die CDU: Eine Verpflichtung der Arbeitgeber, ihre Belegschaft testen zu lassen, wenn die nicht im Homeoffice arbeitet, schlagen sie aus. Die SPD dringt darauf seit Längerem, im SPD-Entwurf für den Corona-Gipfel noch einmal sehr explizit: Die Wirtschaft soll stärker in die Pflicht genommen werden, die Tests der Arbeitnehmer sollen zum "Muss" werden.

Überraschend spricht sich in der Schalte auch CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff für die SPD-Position aus. Doch CDU-Chef Armin Laschet widerspricht. Am Ende bleibt es bei der Selbstverpflichtung für Unternehmen, Anfang April soll in diesem Punkt erneut Bilanz gezogen werden.

Um drei Uhr nachts schließlich endet der Gipfel. Merkel, Söder und Müller treten vor die Kameras. "In diesem Jahr sind wir – und wir heißt: Bund und Länder, aber vor allem auch: alle Menschen in Deutschland – gemeinsam einen wirklich harten Weg gegangen", sagt Merkel.

Erst am 12. April will die Spitzenrunde zum nächsten Corona-Gipfel zusammenkommen. Die Pandemie kann die Haltung der Ministerpräsidenten bis dahin rasant verändern, bisher übliche Bündnisse nach Parteifarbe zerstören und neue stiften – wenn die Infektionszahlen nur hoch oder niedrig genug ausfallen. Der "harte Weg" des letzten Jahres – für Merkel ist er noch lange nicht vorbei.

Verwendete Quellen
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