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Die CDU unter Friedrich Merz: Wie christlich ist die Partei noch?


Parteiforscher über Merz-Kurs
"Das war ein direkter Angriff auf die Identität der CDU"

InterviewVon Tobias Schibilla

17.05.2025 - 10:02 UhrLesedauer: 8 Min.
Bundeskanzler Friedrich Merz (links) und Jens Spahn, Fraktionsvorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag (rechts, beide CDU): Wie christlich ist die CDU im Jahr 2025?Vergrößern des Bildes
Bundeskanzler Friedrich Merz (l.) und Jens Spahn, Fraktionsvorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag (r., beide CDU): Wie christlich ist die CDU im Jahr 2025? (Quelle: Imago / Nachrichtenagentur DTS)
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Friedrich Merz hat es geschafft: Nach vielen Jahren in der Politik ist er Bundeskanzler. Unter ihm setzt die CDU andere thematische Schwerpunkte als unter Angela Merkel. Welche Folgen das hat, erklärt nun ein Kenner der Partei.

Nach nicht ganz vier Jahren Ampelregierung bestimmt die Union wieder maßgeblich die Regierungspolitik. Schon seinen Wahlkampf führte der neue Bundeskanzler Friedrich Merz mit harten Worten in der Migrations- und Sozialpolitik. Zwei Bereiche, in denen er vieles anders machen will als die Vorgängerregierung: Grenzen stärker kontrollieren, Migration begrenzen, Bürgergeld reformieren.

Der Politikwissenschaftler und Publizist Andreas Püttmann kritisiert, in der CDU dominierten zunehmend Konservative und Wirtschaftsliberale, die Partei vernachlässige ihre christlich-sozialen Werte. Welche Rolle dabei die AfD spielt und wie sich das auf die Stabilität der Schwarz-Roten Koalition auswirken könnte, erklärt er im Interview.

t-online: Herr Püttmann, Sie kritisieren, die Union unter Friedrich Merz entferne sich von ihren christlichen Wurzeln, beziehen sich dabei auch auf die Rhetorik in der Migrationsdebatte. Meinen Sie damit auch Äußerungen von Friedrich Merz, der mal Jugendliche mit Migrationshintergrund als "kleine Paschas" bezeichnete oder Ukrainern "Sozialtourismus" attestierte?

Andreas Püttmann: Solche unsensiblen Etikettierungen sind nur ein Indikator von mehreren für die schwindende christliche Grundierung der Union. Zunächst sind sie allerdings mehr ein Hinweis auf die Persönlichkeitsstruktur von Friedrich Merz als auf sein Christsein.

Wie meinen Sie das?

Dass Merz gläubiger Katholik ist und versucht, sich an christlichen Werten zu orientieren, spreche ich ihm nicht ab. Das habe ich während seiner ersten Bundestagsphase in einem langen Gespräch über Arbeit und Muße in der Politik sowie bei Positionierungen etwa in bioethischen Fragen so wahrgenommen. Verbale Ausraster zeigen eher: Er hat sich nicht immer im Griff und ist manchmal zu impulsgesteuert.

Sie kritisieren dennoch, in der Union sei ein Abrücken vom Christlichen zu beobachten. Was genau meinen Sie damit?

Ich pauschalisiere da nicht, aber bei Funktionären des rechten Flügels und in den sozialen Medien ist rohe Bürgerlichkeit statt christlichem Takt vermehrt zu beobachten. Da werden ganze Menschengruppen herabgesetzt und demokratische Mitbewerber verächtlich gemacht. Hinzu kommt: Die CDU hat in ihrer Arbeit am neuen Grundsatzprogramm wichtige Inhalte des christlichen Menschenbildes wie die Gottesebenbildlichkeit zunächst vergessen, "Gott" offenbar nachträglich in einen Relativsatz gefriemelt und christliche Zentralbegriffe reduziert. Zudem zwei bisher ausdrückliche Bezüge auf die christliche Sozialethik getilgt und sich eine "bürgerliche" Zweitidentität zugelegt.

Andreas Püttmann (Archivbild).
Andreas Püttmann (Archivbild). (Quelle: IMAGO/Oryk HAIST)

Zur Person

Andreas Püttmann, 1964 in Dinslaken geboren, ist Politikwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete für die Konrad-Adenauer-Stiftung, war Mitglied der Zukunftskommission der CDU und ist heute als freier Autor unter anderem für die "Blätter für deutsche und internationale Politik" sowie kirchliche Medien tätig. Püttmann beschäftigt sich vor allem mit Fragen des politischen Konservatismus und der Kirchenpolitik.

Hat sich die Union also von ihrem ursprünglichen Wertefundament entfernt?

Ein Stück weit ja. Wobei manche Ideen der Programmkommission unter Carsten Linnemann und Andreas Rödder ja auf Widerstand stießen, auch öffentlich, besonders beim Evangelischen Arbeitskreis und dem christlich-sozialen Flügel, mit gewissem Erfolg. Trotzdem hat man den Eindruck, die CDU hat ihre Strömungsbalance verloren.

Inwiefern?

Es ist ein Symptom der Parteikrise, dass maßgebliche Kräfte die Union offenbar in Richtung einer zweiten, größeren FDP treiben. Wirtschaftsliberale und erklärte Mittelstandsvertreter bis hin zu libertären Ausreißern geben mittlerweile den Ton an. Zeitweise waren alle Parteivizes von der Mittelstandsunion, dann auch noch der Generalsekretär. Innerhalb der Fraktion dominiert der Parlamentskreis Mittelstand. Der frühere CDA-Vorsitzende Karl-Josef Laumann wurde zwar im Mai 2024 zum Parteivize gewählt, er ist allerdings konfliktscheu, Merz treu ergeben und wirkt etwa im Vergleich zum kraftvollen, selbstbewussten Norbert Blüm eher wie ein Feigenblatt.

Warum ist der konservative Flügel der Union in den vergangenen Jahren so stark geworden?

Das ist nicht nur ein Problem der deutschen Christdemokraten. Konservative Kräfte haben in der gesamten westlichen Welt und darüber hinaus an Macht gewonnen und sind dabei zügelloser geworden.

Woran liegt das?

Eine entscheidende Rolle spielt die Revolution der Kommunikation im Netz und speziell in den sozialen Medien. Dadurch schwindet der Einfluss der gesellschaftlichen Eliten – Politiker, Wissenschaftler, professionelle Journalisten – auf den öffentlichen Diskurs. Die radikale Basisdemokratisierung der Meinungsbildung bedeutet, dass unangemessen selbstbewusste Halbgebildete nun Ungebildete agitieren können. Die weniger kenntnisreiche, undifferenzierter denkende Masse wird im Staat wirksamer – im Sinne von José Ortega y Gassets soziologischem Klassiker "Der Aufstand der Massen" von 1929. Dies ist meines Erachtens das Wurzelübel des Populismus, der um sich greift. Eine veritable Kulturkrise. Hinzu kamen Belastungen durch die wirtschaftliche und demografische Krise sowie die Pandemie, die als Katalysatoren für den Populismus wirkten.

Welche Folgen sehen Sie für die CDU unter Friedrich Merz?

Menschen, die von populistischen Einstellungen infiziert sind, ordnen sich selbst im politischen Spektrum weit häufiger rechts als links ein. Konservative Parteien wie die Union werden in diesen Sog des Rechtspopulismus gezogen. Gemäß dem Wort des französischen Staatsmannes Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord: "Da geht mein Volk. Ich muss ihm nach, ich bin sein Führer." Siehe Merz’ kontraproduktive Reaktion auf die Gewalttat in Aschaffenburg mit AfD-Stimmen im Bundestag. Ein antifaschistischer Festschmaus für die schon totgesagte Linke.

Im vergangenen Wahlkampf hat die Migrationspolitik nahezu alle anderen Themen überlagert. Hat daran nicht auch Angela Merkel einen Anteil, weil sie in der Flüchtlingskrise 2015 die Grenzen offenhielt und damit das Signal aussandte: Deutschland werde alle Geflüchteten der Welt aufnehmen?

Angela Merkel wurde von der deutschen Öffentlichkeit ja zunächst mehrheitlich unterstützt in ihrer großherzigen Reaktion auf die Flüchtlingskrise. Dabei folgte sie übrigens nicht nur einem humanitären Motiv, sondern auch einem proeuropäischen.

Inwiefern?

Deutschland wurde von anderen Mitgliedern der Europäischen Union gebeten zu helfen und konnte als größtes und stärkstes Land der Union auch mehr Menschen aufnehmen als Ungarn, Österreich, Griechenland oder Italien. Die Aufnahme so vieler Flüchtlinge war allerdings mit der Hoffnung verbunden, später zu einer gerechten Verteilung in Europa zu kommen. Das hat wegen des anhaltenden Migrationsdrucks und des nationalen Egoismus anderer Länder nicht funktioniert.

Die Hoffnung hat sich aber nicht erfülllt. Warum kritisieren Sie dann Friedrich Merz' Politik, die Zuwanderung stärker zu begrenzen? Schließlich glaubt auch die Mehrheit der Deutschen, dass das Land nicht noch mehr Geflüchtete integrieren kann.

Ordnung und Begrenzung von Zuwanderung sind im Blick auf die innere Stabilität des Landes nötig und übrigens keineswegs unchristlich. Der katholische Weltkatechismus ist dazu recht differenziert. Was ich der Union ankreide ist, dass sie zu einseitig über Migration redet: zu wenig von der Notwendigkeit der Zuwanderung, zu ausschließlich von hochqualifizierten Fachkräften wie Ärzten, Ingenieuren, IT-Experten.

Warum ist das ein Problem?

Wir brauchen auch Arbeitskräfte in Berufen, für die man nicht jahrelang studiert haben muss. Das zeigt der hohe Migrantenanteil in Sparten wie Gastronomie, Reinigung, Bau, Seniorenbetreuung, ÖPNV, Flughafenabfertigung, Sicherheitsdienste. Die Union lenkt Wasser auf die Mühlen der Rechtsradikalen, wenn sie ständig über die Lasten der Migration spricht, aber nicht über den anderen Teil der Wirklichkeit.

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Welche Wirklichkeit ist das?

Wir sind überaltert und daher längst eine Einwanderungsgesellschaft geworden. Der Arbeitsmarkt braucht nach Expertenschätzungen etwa 400.000 Menschen jährlich, die zu uns kommen. Der CDU-Landeschef von NRW, Ministerpräsident Hendrik Wüst, hat nach der "Pascha"-Äußerung von Merz den richtigen Ton getroffen: "Das sind unsere Kinder. Diese Kinder sind unsere Zukunft, eine andere haben wir nicht". So geht Christdemokratie: realistisch, menschenfreundlich, maßvoll.

Aber die CDU und CSU ist eine "christlich-konservative" Partei. Wo sollte sich dann Ihrer Meinung nach das Konservative wiederfinden?

Die beiden Begriffe haben inhaltliche Schnittmengen, sind aber nicht deckungsgleich. Es gibt zwischen ihnen bisweilen sogar eine Spannung. Die konservative Wertetrias lautet "Arbeit, Familie, Vaterland", die höchsten Werte des Christentums sind Glaube, Liebe, Hoffnung. Der Eindruck, das C der CDU/CSU führe zwingend zu Konservatismus, ist falsch.

Wozu sollte es sonst führen?

Ich begreife das C als Vorzeichen vor einer Klammer, in der alle drei Unionsströmungen stehen: das Liberale, das Soziale und das Konservative – von dem in CDU-Programmen bis 1978 übrigens gar keine Rede war. Jede dieser Strömungen bekommt durch das C einen anderen Spin. Thomas Rachel, der Vorsitzende des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU, hat das treffend ausgeführt: Das Liberale bleibt mit dem C menschlich, das Soziale entgleitet nicht in den Sozialismus und das Konservative nicht in eine Blut-und-Boden-Ideologie. Ich füge hinzu: Es zügelt auch konservativen Wohlstandsegoismus.

Warum hat es der christlich-soziale Flügel dann inzwischen so schwer, noch sichtbar zu sein?

Das liegt an einer schleichenden Entwicklung und hängt mit dem wachsenden Wohlstand der Unions-Wählerklientel und der Funktionäre zusammen. Sie wurde allerdings jetzt forciert von Leuten, die Merz förderte und die seine Statthalter in Fraktion und Partei sind: Spahn und Linnemann. Die beiden sind zwar katholisch, aber dass sie intellektuell im Christentum zu Hause sind, kann ich nicht sehen. Es herrscht ja neuerdings auch Verwirrung über die Rolle der Kirchen.

Wie meinen Sie das?

Alles, was aus den Kirchen den Interessen der Konservativen in die Quere kommt, interpretieren sie kurzerhand als kirchliche Übergriffigkeit und Verfehlung des eigentlich Christlichen: Gottesdienst und Seelsorge.

Haben Sie ein Beispiel dafür?

Der Vorwurf von Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, die Kirchen seien zu politisch und vernachlässigten ihren Kernauftrag zugunsten von Tagespolitik. Pardon, die Abwehr des neuen Faschismus, die Eindämmung der Erderwärmung und die Hilfe für Notleidende und Verfolgte sind nicht Tagespolitik, sondern christlich-ethisch existenziell.

Der ehemalige Leiter der CDU-Grundwertekommission, Andreas Rödder, schlug nach der Bundestagswahl 2021 sogar vor, das C aus dem Namen der CDU zu entfernen.

Das war ein direkter Angriff auf die Parteiidentität, verkleidet als opportunistisches Kalkül, damit eine Barriere für Nichtchristen abzubauen. Aber die Wertschätzung des Christentums liegt in Deutschland laut Umfragen weit höher als das Wahlergebnis der Union. Es ist unterkomplex zu meinen, das christliche Ethos sei nicht mehr vermittelbar, nur weil die Leute nicht mehr regelmäßig in die Kirche gehen. Mir scheint, den Bedenkenträgern gegen das C geht es mehr darum, einen Stachel im Fleisch loszuwerden. Merkel warfen sie eine "Entkernung" der Partei vor, jetzt betreiben sie die ideell selbst.

Der neue Innenminister Alexander Dobrindt forderte vor einigen Jahren: "Auf die linke Revolution der Eliten folgt eine konservative Revolution der Bürger." Viele kritisierten anschließend, er orientiere sich damit bewusst an den radikal Rechten. Sie auch?

Da muss ich Dobrindt in Schutz nehmen: Grund dieser Äußerung war wohl eher historischer Bildungsmangel als ein bewusstes Anknüpfen an die präfaschistische Bewegung "Konservative Revolution" in der Weimarer Republik. Solche populistische Scharfmacherei nützt aber mehr dem Original AfD als der Kopie, an der man sich versucht, während die Wählerschaft schrumpft und schrumpft.

In den kommenden vier Jahren wird wahrscheinlich eine Bundesregierung unter Friedrich Merz Deutschland regieren. Erwarten Sie, dass die Union weiter nach rechts rückt?

Ob es vier werden? Ich habe da Zweifel. Wie sich eine Partei im politischen Spektrum positioniert, hängt nicht nur vom Führungspersonal, sondern auch von Rahmenbedingungen ab. Mit der SPD als Koalitionspartner muss die Union mittiger bleiben. Ich erwarte, dass die Bewegung nach rechts dadurch erst einmal ausgebremst wird. Das hängt allerdings stark davon ab, ob es Merz künftig besser gelingt, die Partei geistig zu führen.

Wie meinen Sie das?

Er und die Seinen haben die Leute nun drei Jahre durch zügellose Rhetorik auf die Bäume getrieben – und nun gilt es sie wieder herunterzuholen. Lange vor der Wahl hatte ich prognostiziert, dass diese Art Krawall-Oppositionspolitik zwar kurzfristig in Umfragen 35 Prozent bescheren kann, mit zunehmender Nähe zur Wahl und erst recht nach Übernahme der Regierungsgeschäfte es aber einen Aderlass an Wählern geben werde. So kam es. Die Union liegt nun bei mehreren Instituten um 25 Prozent, nahezu gleichauf mit der AfD. Das ist der Preis für die rechtslastige, zügellose Rhetorik. Und mit dem Aderlass geht ein weiteres Risiko einher.

Welches?

Sollte die Union in Umfragen weiter fallen, könnte das zu Panik wie bei der späten Ampel-FDP führen. Dann werden einige Konservative auf den Koalitionsbruch hinarbeiten. Merz hat Vertreter des rechten Parteiflügels auf Schlüsselpositionen gesetzt. Damit ging er ein hohes Risiko ein. Wer ihm in der Opposition gegen die Ampel und schon gegen Merkel loyal war, der muss es ihm als GroKo-Kanzler nicht bleiben. Personalpolitik gehört nicht zu Merz’ Begabungen.

Herr Püttmann, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefongespräch mit Andreas Püttmann
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