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Russland: Wladimir Putin braucht die Mittelschicht – das kostet


Unterschätzte "Geheimwaffe"
Putin sichert sich Unterstützung für den Krieg


26.05.2024Lesedauer: 5 Min.
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Wladimir Putin: Russlands Präsident will wohl in alle Ewigkeit regieren, fürchtet Wladimir Kaminer.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Präsident braucht für seinen Krieg gegen die Ukraine die Unterstützung aus der Bevölkerung. (Quelle: Kazakov/Kremlin Pool/imago-images-bilder)

Russlands Krieg gegen die Ukraine läuft seit über zwei Jahren. Er kostet Leben und viel Geld und wird für Putin noch teurer werden. Nur so sichert er sich wichtige Unterstützung.

Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, rechnete Präsident Wladimir Putin mit einem schnellen Sieg. Nur wenige Tage bis Wochen hatte der Kreml einkalkuliert, dann waren bereits Siegesfeiern eingeplant. Doch die Ukraine erweist sich bis heute als überraschend standfest, ihr Widerstand ist ungebrochen.

Dass sich der Krieg so in die Länge zieht, ist für Putin aus mehreren Gründen problematisch: In erster Linie kostet er viele Tausende Menschenleben und Unsummen an Geld. Um dennoch die Unterstützung der Bevölkerung nicht zu verlieren, greift der Kreml-Chef aber noch tiefer in die Staatskasse, macht Steuergeschenke, entlohnt die Soldaten mit hohen Gehältern und entschädigt die Soldatenfamilien, wenn Angehörige im Kampf gefallen sind oder verwundet wurden. Wie lange die Finanzierung aus dem bereits zur Hälfte aufgebrauchten Wohlstandsfonds noch funktionieren kann, ist ungewiss, doch aktuell sichert sie Putin neben der Kriegsfinanzierung noch eine Art Geheimwaffe: die Unterstützung der heimischen Mittelschicht.

Russischer Wirtschaft geht es besser als erwartet

Tatsächlich sehen die Wirtschaftsdaten Russlands auf den ersten Blick besser aus, als viele westliche Politiker es zunächst erwartet hatten. So stieg das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2023 um 3,6 Prozent an – und das trotz der westlichen Sanktionen und des Gaslieferstopps.

"Es gab die falsche Annahme, dass die Sanktionen kurzfristig wirken können. Dabei haben die Politiker die Anpassungsfähigkeit und die jahrelange Vorbereitung Russlands unterschätzt", sagt Simon Gerards Iglesias, Ökonom am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, im Interview mit t-online. Gemeinsam mit Institutsleiter Michael Hüther und Kollegin Melinda Fremerey hat er ein Buch über Auswirkungen des Sanktionsregimes und die russische Wirtschaftsordnung geschrieben. Das ganze Gespräch lesen Sie hier.

Das Problem der westlichen Sanktionen liege vor allem darin, dass nicht alle Länder im gleichen Maße mitmachen würden und zudem die Regelungen oft löchrig seien. Auf langfristige Sicht halten die Experten die Maßnahmen dennoch für wirksam, da Russland nach und nach wichtige Ersatzteile, aber auch Konsumgüter und vor allem Abnehmer für seine Energieträger ausgehen. Denn bis 2022 war der Handel mit Rohstoffen der wichtigste Einkommenszweig für die russische Staatskasse, machte zeitweise über 50 Prozent des Haushalts aus. Diese Zeiten sind vorbei: Viele Länder haben sich von Russland als Lieferanten abgewendet und die Preise am Weltmarkt haben sich wieder gefangen, sodass Russland seine Energieträger derzeit deutlich günstiger und an einen kleineren Interessenkreis abgeben muss.

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Dass die russische Wirtschaft sich derzeit als verhältnismäßig resilient präsentiert, liegt vor allem auch an der Rüstungsindustrie. Immerhin arbeiten im Verteidigungssektor landesweit 3,5 Millionen Menschen. Das russische Zentrum für makroökonomische Analysen und kurzfristige Prognosen (CAMAC) führt etwa 60-65 Prozent des Anstiegs der Industrieproduktion in den letzten zwei Jahren auf den Ukraine-Krieg zurück.

Fokus auf Waffen ist nicht nachhaltig

Die Kriegswirtschaft treibt derzeit das Wachstum an, doch mittelfristig wird das nicht ausreichen, um die Wirtschaft zu stabilisieren. "Die Produktion im militärisch-industriellen Komplex wirft, um es ganz offen zu sagen, Geld aus der Wirtschaft heraus", so die Wirtschaftswissenschaftlerin Alexandra Suslina zur Nachrichtenagentur Reuters. "Konventionelle Panzer und Bomben sind etwas, das man einmal benutzt und das der Wirtschaft nichts zurückgibt."

Im Klartext: Die Produktion von Waffen schafft derzeit Arbeitsplätze und die Rüstungskonzerne erhalten umfangreiche staatliche Aufträge. Doch einmal auf dem Schlachtfeld verwendet, haben die Waffen keinen weiteren wirtschaftlichen Nutzen und die Investitionen in Fabriken sind mit Kriegsende ebenfalls zu entscheidenden Teilen obsolet.

Aktuell führt für Putin aber kein Weg an diesen Investitionen vorbei, denn er braucht die Waffen und die Munition für seinen Krieg. Die Wirtschaftszahlen sind aber vor allem nur auf den ersten Blick positiv. Putin versuchte zuletzt, im Wahlkampf mit einem Wirtschaftswachstum und einer niedrigen Arbeitslosenquote von derzeit gerade einmal 2,9 Prozent zu punkten, aber es handelt sich hierbei wahrscheinlich um Entwicklung, die nicht nachhaltig ist.

Als klar wurde, dass der Krieg länger dauern würde als ursprünglich gedacht, wurde die Produktion hochgefahren. Schätzungen zufolge produziert Russland derzeit monatlich etwa 250.000 Artilleriegranaten. Aufs Jahr gerechnet sind das drei Millionen. Das ist fast die dreifache Menge des Westens: Die USA und Europa kommen derzeit auf etwa 1,2 Millionen Stück pro Jahr. Dafür wurde die Produktion in einem Dreischichtbetrieb, rund um die Uhr, organisiert. Gleichzeitig stiegen auch Gehälter um das Zwei- bis Zweieinhalbfache, Personal aus anderen Branche wurde angeworben.

Diese Entwicklungen führen dazu, dass der Wohlstand in Städten, in denen Rüstungsunternehmen Fabriken haben, wächst. Plötzlich gehören Arbeiter der Rüstungsindustrie zur Mittelschicht und können deutlich mehr Geld ausgeben als vorher. Dieses Geld kommt allerdings aus der russischen Staatskasse.

Hohe Löhne für Soldaten

Für den Krieg werden nicht nur immer weitere Waffen benötigt, sondern vor allem auch immer neue Kämpfer. Dafür hat Putin schon einiges ausprobiert. Er heuerte die Söldner-Gruppe Wagner an und rekrutierte inhaftierte Straftäter. Doch vor allem ködert die russische Armee junge Rekruten mit Geld.

Während der Durchschnittslohn in Russland je nach Berechnung bei umgerechnet zwischen 670 und 740 Euro im Monat liegt, zeigte ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Ukrainian Victims of War und der Ukrainian Catholic University im vergangenen Jahr, dass das russische Militär mit monatlichen Gehältern von bis zu 700.000 Rubel monatlich wirbt. Das entspricht umgerechnet rund 7.200 Euro und ist damit mehr als zehnmal so viel wie der Durchschnittslohn.

Hinzu kommen teilweise Prämien über mehrere Tausend Euro für das Unterschreiben eines Vertrages und vor allem hohe Zahlungen an die Hinterbliebenen, sollte ein Soldat im Krieg sterben. Im vergangenen Jahr unterzeichnete Putin ein Dekret, das den Familien im Todesfall fünf Millionen Rubel (rund 51.000 Euro) zusichert. Die Zahlen über gefallene Soldaten sind ungenau. Die Ukraine spricht von mehr als 450.000 toten russischen Soldaten. BBC Russia und Mediazona konnten bislang mehr als 50.000 Gefallene identifizieren. Die tatsächliche Anzahl liegt wohl irgendwo dazwischen.

Putin kann sich Sparen nicht erlauben

Diese Zahlungen stellen eine deutliche Belastung für die Staatskasse dar. Im föderalen Haushalt für 2024 sind die Kriegsausgaben mit umgerechnet 100 Milliarden Euro veranschlagt, was sechs Prozent der russischen Wirtschaftsleistung entspricht.

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Eine unglückliche Situation für Putin, denn er kann es sich zudem nicht erlauben, das Einkommensniveau der Mittel- und Unterschicht deutlich abfallen zu lassen, wenn er keine breite Welle der Unzufriedenheit auslösen will. Ein Drittel der russischen Bevölkerung ist auf staatliche Leistungen angewiesen oder arbeitet für staatliche Einrichtungen.

Energieeinnahmen fehlen

Während die Kosten steigen, sinken zudem die Einnahmen: 2023 wies der russische Staatshaushalt ein Defizit von 3,24 Billionen Rubel (rund 33 Milliarden Euro) auf. Zu Beginn des Jahres 2024 stiegen die Ausgaben noch einmal um mehr als 17 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. An neues Geld zu kommen, ist für Putin eine große Herausforderung. Denn bis zum Einmarsch in die Ukraine machten Einnahmen aus dem Verkauf von Bodenschätzen, vor allem von Öl und Gas, teilweise mehr als 50 Prozent der Staatseinnahmen aus. Expertin Fremerey spricht deshalb auch von einem "Rohstoff-Fluch" der russischen Wirtschaft. "Das heißt, dass Russland durch das starke Exportgeschäft mit Rohstoffen die Entwicklung anderer Industriezweige vernachlässigt hat."

Als Reaktion auf die westlichen Sanktionen hat Russland den direkten Transport von Gas nach Deutschland eingestellt. Die große Hoffnung, dass die Energieträger in andere Teile der Welt zu ähnlichen Preisen verkauft werden könnten, hat sich bislang nicht erfüllt (mehr dazu lesen Sie hier). Selbst Partner China nimmt nur einen Bruchteil der Gasmenge ab – auch weil die entsprechende Infrastruktur fehlt. Es wird sich also zeigen, wie lange Putin auf dem Rücken der Kriegswirtschaft den Zuspruch für seinen Feldzug gegen die Ukraine finanzieren und sich Unterstützung quasi erkaufen kann. Noch scheint sich seine Taktik auszuzahlen: Im April lagen seine Zustimmungswerte in der Bevölkerung – bei aller gebotenen Skepsis gegenüber Umfragen in Russland – bei 85 Prozent.

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