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Bürgergeld: So unterscheidet sich der Ampel-Vorschlag von Hartz IV


"In erster Linie ist Bürgergeld ein neuer Name für Hartz IV"


25.11.2021Lesedauer: 5 Min.
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Olaf Scholz (M.) mit Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken (Fotomontage): Das Bürgergeld ist vor allem der SPD seit Jahren ein Anliegen.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz (M.) mit Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken (Fotomontage): Das Bürgergeld ist vor allem der SPD seit Jahren ein Anliegen. (Quelle: t-online/imago-images-bilder)

Ein neues "Bürgergeld" soll künftig Hartz IV ersetzen. t-online erklärt, was genau sich durch den Ampel-Plan ändern soll und wie groß die Unterschiede zum bestehenden System sind.

Mit keinem Wort erwähnt, und das sagt viel. Rund 40 Minuten sprachen die Spitzen von SPD, Grünen und FDP am Mittwoch bei der Präsentation des Koalitionsvertrages – und erwähnten dabei nicht einmal, was noch in keinem Wahlkampf-Triell fehlen durfte: das sogenannte Bürgergeld, der Nachfolger für das heutige Hartz IV.

Was war da los?

Tatsächlich schickte sich vor der Wahl vor allem die SPD an, Hartz IV zu überwinden. Jahrelang rang die Partei mit sich selbst. Im Wahlkampf kündigte SPD-Chefin Saskia Esken in einem Interview mit der "taz" an, ein neues Bürgergeld müsse "auskömmlich" sein und neu berechnet werden. Auch die Grünen liebäugelten mit höheren Regelsätzen beim Arbeitslosengeld II – und nannten im Wahlkampf sogar eine konkrete Zahl: 50 Euro sollte es mehr geben.

Nach der Wahl lag es deshalb nahe, dass eine Erhöhung der Leistung für Arbeitslose kommen würde. Die Frage war eher: Ab welcher Summe können die Parteien das Plus als Erfolg verkaufen?

Darum aber geht es, jetzt da der Koalitionsvertrag steht, kaum mehr, wie Holger Schäfer, Ökonom am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) urteilt. "In erster Linie ist das Bürgergeld ein neuer Name für Hartz IV", sagte er t-online.

Wohlfahrtsverband über Regelsätze: "Außerordentlich enttäuscht"

Denn schaut man in den Koalitionsvertrag der drei Parteien, sticht auch hier das ins Auge, was nicht erwähnt wird – nämlich höhere Regelsätze.

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Das ist auch Ulrich Schneider sofort aufgefallen. Im Gespräch mit t-online sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtverbands: "Das Bürgergeld ist noch nicht die in Aussicht gestellte Überwindung von Hartz IV." In seinem Verband sind unter anderem Organisationen wie das Kinderhilfswerk, der Sozialverband oder örtliche Tafeln zusammengeschlossen. "Wir sind außerordentlich enttäuscht, dass beim Regelsatz nichts in Bewegung gekommen ist", so Schneider weiter.

Damit ist er nicht allein. Viele Langzeitarbeitslose hatten sich angesichts der Wahlkampfversprechen Hoffnungen auf höhere Bezüge gemacht. Umso größer fällt jetzt die Kritik aus, auch aus der Wissenschaft. Martin Seeleib-Kaiser, Professor für Sozialpolitik an der Universität Tübingen, etwa sagte t-online: "Dass der Regelsatz von der Ampel nicht angehoben wird, ist enttäuschend, da dieser nicht ausreicht, um über die allgemein verwendete Armutsschwelle zu kommen – Bezieher also in Armut verharren." Dies sei besonders mit Blick auf die derzeitige Inflation fatal, die sich auch bei den Grundnahrungsmitteln niederschlägt "und somit gerade jene Gruppen massiv betrifft".

Momentan erhalten alleinstehende Empfänger der Sozialleistung 446 Euro im Monat, im Januar 2022 wird der Betrag gemäß der Regel um drei Euro erhöht. Wohlfahrtsverbandschef Ulrich Schneider fordert eine "bedarfsgerechte Anpassung des Regelsatzes auf mindestens 600 Euro".

SPD wollte sich von Hartz-Reformen distanzieren

All diese Sätze dürften in den kommenden Tagen bei den Ampelkoalitionären nachhallen, besonders bei den Sozialdemokraten. Sie selbst waren es unter ihrem damaligen Kanzler Gerhard Schröder, die die Hartz-Reformen durchgesetzt haben.

Seitdem wird Hartz IV vielfach mit sozialer Kälte und Abstiegsängsten in der Gesellschaft verknüpft. Obwohl die Grünen damals mit in der Regierung saßen – und auch die Union die Reform mitgetragen hatte – werden diese gemeinhin nur der SPD zugeschrieben. Und deren jahrelange schlechten Umfragewerte oftmals auch dadurch erklärt. Deshalb schien es für die Partei so wichtig, eine echte Abkehr von Hartz IV zu schaffen.

Die jetzt von SPD, Grünen und FDP angedachte Reform jedoch ähnelt mehr einer Umbenennung – die jedoch auch Zuspruch findet. IW-Ökonom Holger Schäfer etwa findet das Wort "Bürgergeld", auf das sich die Koalitionäre schon früh einigten, deutlich besser als das negativ belastete "Hartz IV".

Zuverdienstmöglichkeiten sollen besser werden

Zudem gebe es im Kleinen durchaus positive Veränderungen, wie auch Sozialwissenschaftler Seeleib-Kaiser sagt. So verspricht die Ampel etwa, die Zuverdienstmöglichkeiten zu verbessern, auch wenn noch nicht konkret klar ist, wie genau das aussehen soll.

Auch dass die Größe der Wohnungen der Betroffenen für die ersten zwei Jahre keiner Prüfung unterliege (wie während der Pandemie bereits gehandhabt) sei positiv zu bewerten: "Da scheint es je nach Jobcenter in der Vergangenheit eine sehr starre Handhabung gegeben zu haben – mit fatalen Konsequenzen für die Betroffenen", sagt Seeleib-Kaiser. Etwa dass diejenigen, die arbeitslos wurden, aus ihrer Wohnung ausziehen mussten, da diese ein paar Quadratmeter mehr maß, als zulässig ist.

Die Änderungen lobt auch IW-Ökonom Schäfer. Mit den verbesserten Zuverdienstmöglichkeiten und einem höheren Betreuungsschlüssel würden zentrale Forderungen vonseiten der Wirtschaft erfüllt. Auch die angekündigte Entbürokratisierung durch pauschalierte Leistungen – also das Auszahlen von Pauschalen anstatt von Einzelfallberechnungen – hält er für sinnvoll.

Andere Änderungen wie etwa die Abschaffung des Vermittlungsvorrangs sieht er dagegen kritisch. Ziel müsse es bleiben, dass Menschen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden, so Schäfer. Den Erhalt von Mitwirkungspflichten hält er daher für angebracht.

Ob das neue Bürgergeld in der Logik tatsächlich anders sei als das bisherige Hartz IV, bleibe abzuwarten, sagt der Professor für Sozialpolitik, Seeleib-Kaiser. Denn eine Reform, die die unterschiedlichen Sozialleistungen – darunter auch das Bürgergeld – aufeinander abstimmt, soll erst noch von einer Kommission erarbeitet werden. "Das heißt: Wir wissen noch gar nicht genau, wie das Bürgergeld konkret aussehen wird", sagt Seeleib-Kaiser.

Moratorium der Sanktionen: "Schritt in die richtige Richtung"

Das gilt vor allem auch in Bezug auf die Sanktionen: Immer wieder sorgte für Kritik, dass Empfängern Sozialleistungen unter bestimmten Umständen gekürzt werden können. Schließlich sei die Grundsicherung ja schon per Definition das soziale Minimum, noch weniger auszuzahlen also nicht angebracht. Auch das Bundesverfassungsgericht sieht das so, entschied, dass diese Sanktionspraxis teilweise verfassungswidrig sei.

Wohl auch deshalb setzt die Ampel diese Sanktionen nun erst einmal für ein Jahr lang aus. "Das Moratorium für Sanktionen ist ein Schritt in die richtige Richtung", so Verbandschef Schneider. Danach soll es sogenannte Mitwirkungspflichten geben.

Pflichten gibt es für Hartz-IV-Empfänger momentan schon zahlreiche: Sie müssen für das Jobcenter erreichbar sein, müssen Termine wahrnehmen, müssen ihre Vermögensverhältnisse offenlegen. Was genau passiert, wenn diese "Mitwirkungspflichten" nicht eingehalten werden, lässt der Koalitionsvertrag offen. Vielleicht sind es am Ende also Sanktionen mit neuem Namen.

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Grüne Jugend: "menschenunwürdiges Hartz IV-System"

An dieser Stelle jedoch dürften die Jugendverbände von SPD und Grünen Druck machen: Beiden war die Reformierung des Hartz-IV-Systems auch schon vor der Wahl ein wichtiges Anliegen. Für die Sprecherin der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich, handelt es sich um ein "menschenunwürdiges Hartz IV-System".

"Solange die Regelsätze nicht erhöht werden, bleibt ein Leben in Hartz IV ein Leben unter dem Existenzminimum und damit keine soziale Absicherung", sagte sie t-online. Wer der "sozialen Krise" wirklich etwas entgegensetzen wolle, müsse dafür sorgen, dass der Sozialstaat Menschen wirklich auffange – das sei so nicht der Fall. Es würde damit bewusst "an den Ärmsten der Gesellschaft" gespart, sagt Heinrich, die selbst in Hartz IV aufgewachsen ist.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherchen
  • Gespräch mit Prof. Martin Seeleib-Kaiser am 25.11.2021
  • Anfrage an Sarah-Lee Heinrich am 25.11.2021
  • Gespräch mit Holger Schäfer am 25.11.2021
  • Gespräch mit Ulrich Schneider am 25.11.2021
  • Pressekonferenz zur Vorstellung des Koalitionsvertrages
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