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EU-Türkei-Grenze: Warum wir keine Angst vor neuen Flüchtlingen haben müssen


EU-Türkei-Grenze
Warum wir keine Angst vor neuen Flüchtlingen haben müssen

MeinungEine Kolumne von Ursula Weidenfeld

Aktualisiert am 04.03.2020Lesedauer: 4 Min.
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Ein geflüchteter Auszubildender in einer Übungswerkstatt: Fast jeder zweite, der 2015 und 2016 kam, hat inzwischen einen Job.Vergrößern des Bildes
Ein geflüchteter Auszubildender in einer Übungswerkstatt: Fast jeder zweite, der 2015 und 2016 kam, hat inzwischen einen Job. (Quelle: imago-images-bilder)

Was sind die Lehren aus den Jahren 2015 und 2016? Kein Land kann unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen. Doch diejenigen, die kommen, lassen sich integrieren. Deutschland kann das ziemlich gut.

Wieder sind Hunderttausende auf der Flucht. Wieder sammeln sie sich zu tausenden an der Grenze zu Griechenland. Wieder ist ihr Ziel Europa. Diesmal aber soll alles anders werden. Man habe gelernt, beteuern die Politiker. Der Satz, "2015 darf sich nicht wiederholen", gilt immer noch. So sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am Montag.

Zu Recht: Die Kontrolle über seine Außengrenzen darf ein Land nicht verlieren. Das ist die wichtigste Lehre aus dem Jahr 2015. Die zweitwichtigste Botschaft ist ebenso deutlich. Ein Land kann nur so viele Flüchtlinge und Asylbewerber aufnehmen, wie es integrieren kann. Denn die Annahme, dass sich Flucht- und Asylgründe binnen Monaten erledigen und die Betroffenen in ihre Heimatländer zurückkehren können, hat sich bisher jedenfalls nicht bewahrheitet.

Die drittwichtigste Botschaft aber ist: Jenseits aller gesellschaftlichen Polarisierung sind die Aufnahme und die Integration der Geflüchteten aus den Jahren 2015 und 2016 ziemlich gut gelungen. Daraus lässt sich für Neuankömmlinge in den kommenden Monaten und Jahren eine Menge lernen.

Deutschland ist in der Flüchtlingsfrage noch immer gespalten

Vor fünf Jahren hatten mehr als 1,8 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Iran, Afghanistan und anderen Ländern zuerst Europa und dann Deutschland erreicht. Hunderttausende Deutsche halfen, den oft traumatisierten Flüchtlingen Unterkunft, Kleidung und Nahrung zu besorgen.

Auf der anderen Seite aber wurde schnell deutlich, dass das Land seine Grenzen erreicht hatte: Wochenlang mussten Asylbewerber auf Termine warten, monatelang hausten die Geflüchteten in Übergangslagern, Turnhallen und ausrangierten Baumärkten.

Nicht alle bekamen Sprachunterricht, konnten bald zur Schule gehen, oder sich in den Arbeitsmarkt integrieren. Viele Einheimische hatten den Eindruck, nun mit den Hinzugekommenen um Arbeit, Wohnungen und Staatsgeld konkurrieren zu müssen. Die Stimmung sank, das Land ist bis heute in dieser Angelegenheit tief gespalten.

Fast jeder Zweite, der 2015 und 2016 kam, hat einen Job

Deshalb stellen sich nun, angesichts einer möglicherweise neuen Flüchtlingswelle, folgende Fragen: Was hat Deutschland aus 2015/2016 gelernt? Was ist gut gelaufen, was schlecht? Wie viele der damals Aufgenommenen arbeiten oder machen eine Ausbildung, wie viele sind zurück in ihre Heimatländer gegangen? Welche Auswirkungen hatte der Zustrom auf die Arbeitsplätze und Löhne der schon länger ansässigen Bevölkerung?

Die Studien dazu klingen einigermaßen beruhigend: Fast jeder zweite der zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland gekommenen Asylbewerber und Flüchtlinge hat heute eine Arbeitsstelle. Über 90 Prozent der Kinder besuchen die Schule, von den Erwachsenen haben immerhin 85 Prozent einen Sprachkurs absolviert.

Die Reaktionen auf Erdogans Drohungen im Video:

Rund 30.000 Flüchtlinge bewerben sich pro Jahr auf einen Ausbildungsplatz, fast 25.000 junge Menschen aus den größten Asylländern waren im Jahr 2018 an einer deutschen Hochschule eingeschrieben. Damit sind die Migranten der Jahre 2015 und 2016 erfolgreicher, als es die Balkan-Flüchtlinge in den neunziger Jahren nach den ersten fünf Jahren im neuen Land waren. Deutschland hat diesmal für den größten Teil der Betroffenen besser reagiert.

Weil viele der Flüchtlinge mit kleinen Kindern gekommen, oder einem traditionellen Familienbild verhaftet sind, arbeiten wesentlich mehr Männer als Frauen. Mehr als jeder zweite, der Arbeit hat, arbeitet in schlecht bezahlten Helferjobs.

Die Zahl derjenigen, die zusätzlich staatliche Leistungen benötigen, ist mit rund 30 Prozent deutlich höher als die Einheimischer. Rund 15 Milliarden Euro hat der Bund im Jahr 2018 für die Integration von Flüchtlingen ausgegeben. Zählt man die Fluchtursachenbekämpfung noch hinzu, kommt man auf etwa 23 Milliarden Euro.

Die Arbeitslosigkeit ist auf fünf Prozent gesunken

Für die kommenden Jahre sieht der Bundeshaushalt hier keine höheren Ausgaben vor, im Gegenteil: Bis 2023 sollen die flüchtlingsbezogenen Ausgaben insgesamt auf knapp 16 Milliarden Euro sinken, der Anteil des Geldes, das in potenzielle Herkunftsländer von Flüchtlingen fließen soll, wird steigen. Die Kosten für einen neuen Zustrom nach Deutschland müsste Finanzminister Olaf Scholz also neu und zusätzlich finanzieren.

Die meisten der Geflüchteten der Jahre 2015 und 2016 leben heute noch in Deutschland. Jährlich werden knapp 30.000 Menschen abgeschoben, deren Asylantrag abgelehnt wurde, oder deren Flüchtlingsstatus nicht anerkannt wird. Etwa ebenso viele Abschiebungen scheitern – meist, weil die Menschen mit abgelehnten Asylanträgen oder negativen Bescheiden zum Flüchtlingsstatus zum Termin nicht an ihren Meldeadressen angetroffen werden. Um dagegen vorzugehen und vor allem Straftäter abschieben zu können, will beispielsweise Bayern die Zahl von Abschiebehaftplätzen erhöhen.

Befürchtungen, dass durch einen Zustrom von Flüchtlingen die Löhne der bereits Ansässigen gedrückt werden, haben sich nicht bewahrheitet. Zwischen 2015 und 2019 stiegen die Bruttolöhne der Beschäftigten in Deutschland mit Jahresraten von über vier Prozent. Der 2015 eingeführte Mindestlohn stieg von 8,50 Euro auf 9,35 Euro. Die durchschnittliche Arbeitslosigkeit sank von 6,4 Prozent 2015 auf 5 Prozent im vergangenen Jahr.

Selbst Geringqualifizierte hatten kaum Probleme auf dem Arbeitsmarkt

Nicht einmal die Gruppen, die normalerweise besonders unter der wachsenden Konkurrenz weniger gut ausgebildeter Arbeitnehmer zu leiden haben – Helfer, haushaltsnahe Dienstleister, Geringqualifizierte – mussten Einbußen hinnehmen. Arbeitsmarktexperten und Armutsforscher erklären das mit dem Konsumverhalten der Neuankömmlinge: Weil sie ihr knappes Geld nahezu vollständig für Nahrungsmittel, Konsumartikel und Dienstleistungen ausgeben müssen, schaffen sie vor Ort mehr Kaufkraft, und damit Arbeit auch für andere Geringqualifizierte – zum Beispiel für bisher arbeitslose Einheimische.

Ernstzunehmen ist allerdings der Einwand, in Städten mit großer Wohnungsnot wachse durch den Zustrom neuer Flüchtlinge die Konkurrenz um bezahlbaren Wohnraum. Deshalb ist die Bundesregierung gut beraten, künftig auf die Aufnahmebereitschaft von Städten und Gemeinden zu schauen, bevor Flüchtlinge nach starren Quoten verteilt werden.

So haben sich bereits 120 deutsche Großstädte, darunter fast alle Landeshauptstädte, zu einem Bündnis „Sichere Häfen“ zusammengeschlossen, um Bootsflüchtlinge unkompliziert aufnehmen zu können. Viele dieser Städte sind auch Teil einer Initiative, unbegleitete Kinder aus griechischen Erstaufnahmelagern aufzunehmen. In diesen Kommunen ist entweder Platz, oder es gibt ein breites Bündnis der Bürger, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, oder es gibt beides. Auf die Besonderheiten von Regionen Rücksicht zu nehmen, würde einem Prinzip erfolgreicher Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik in anderen Ländern folgen.

Ausgerechnet das aber hat Deutschland leider immer noch nicht gelernt.

Ursula Weidenfeld ist Wirtschaftsjournalistin in Berlin. Gemeinsam mit t-online.de und der Leibniz-Gemeinschaft produziert sie den Podcast "Tonspur Wissen".

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