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Putins Invasion in die Ukraine: "Er steht vor einem gewaltigen Problem"


Putins Ukraine-Krieg
"Der Kremlchef steht vor einem gewaltigen Problem"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 09.03.2022Lesedauer: 8 Min.
Interview
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Wladimir Putin: Der russische Präsident braucht in der Ukraine einen militärischen Erfolg.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der russische Präsident braucht in der Ukraine einen militärischen Erfolg. (Quelle: Alexei Nikolsky/Russian Presidential Press and Information Office/TASS/imago-images-bilder)

Seit Kriegsbeginn wird Wladimir Putin häufiger für verrückt erklärt. Das sei der russische Präsident keineswegs, erklärt Historiker Sönke Neitzel. Er befinde sich aber in der Zwickmühle – was wenig Gutes verheißt.

t-online: Professor Neitzel, Sie beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit der Geschichte gewalttätiger Konflikte: Hätten Sie Mitte Februar erwartet, dass Wladimir Putin die Ukraine tatsächlich angreifen würde?

Sönke Neitzel: Wir wussten, dass das russische Militär im Januar und Februar in seinen Kriegsvorbereitungen weiter gegangen war als in den Jahren zuvor. Es hatten sich auch die Anzeichen gemehrt, dass Putin dieses Mal ernst machen könnte. Aber dass Russland tatsächlich die Ukraine angreift? Das hätte ich nicht erwartet. Ich war eben auch in einem deutschen Referenzrahmen gefangen.

Weil wir Deutschen der Überzeugung waren, dass ein solcher Angriffskrieg auf unserem Kontinent gar nicht mehr vorstellbar ist?

Genau. Für uns Deutsche bedeutet Krieg in unserer historischen Erfahrung Massentod und Massenzerstörung. Das ist als Mittel der Politik doch vollkommen unvorstellbar, so ließe sich diese Überzeugung zusammenfassen. Putin hat uns jetzt leider eines Besseren belehrt.

Nun führen mit Russland und der Ukraine die beiden größten europäischen Länder miteinander Krieg. Welches Ziel verfolgt Putin mit seiner Attacke?

Er will dem Land militärisch seinen Willen aufzwingen. Vielleicht kann Russland die Ukraine militärisch besiegen. Aber wie will er dann dieses riesige Land – oder zumindest größere Teile davon – kontrollieren? Die Ukrainer hassen Putin, sie werden ihn bis zum Letzten bekämpfen. Der Kremlchef steht also vor einem gewaltigen Problem.

Allerdings auch wir Deutschen: Wir müssen uns der Bedrohung durch Russland und andere Staaten, für die Krieg wieder die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln geworden ist, stellen.

Vor allem müssen wir den Krieg wieder in den Köpfen denken lernen, auch wenn das schwerfällt. Putin und andere Gefahren in der Welt zwingen uns dazu.

Sönke Neitzel, Jahrgang 1968, lehrt seit 2015 Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Der Historiker ist Experte für die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die Entwicklung des deutschen Militärs. Sein Buch "Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte" von 2020 ist ein Standardwerk insbesondere zur Rolle der Bundeswehr. Zuletzt erschien 2021 "Blutige Enthaltung. Deutschlands Rolle im Syrienkonflikt" (mit Bastian Matteo Scianna).

Nun hat sich Putin nicht über Nacht vom "lupenreinen Demokraten" zum Despoten und Kriegsherren gewandelt. Tatsächlich warnten zahlreiche Experten seit längerer Zeit vor der potenziellen Bedrohung.

Das ist leider wahr. Während Sicherheitsexperten schon länger die Bedrohungslage recht gut eingeschätzt haben, geschah auf der politischen Ebene wenig. Es liegt einfach daran, dass sich in Deutschland der sicherheitspolitische und der politische Diskurs völlig voneinander abgekoppelt haben – sie waren geradezu zwei magnetische Pole, die sich abstießen. Nach Putins Angriff sollte nun jedem eine Tatsache klar sein: Deutschland muss sich wieder in einen Zustand versetzen, der es erlaubt, dass wir uns selbst und unsere Verbündeten verteidigen können.

Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete eine entsprechende "Zeitenwende" in diesem Sinne.

Hinter den Begriff "Zeitenwende" würde ich zunächst noch ein Fragezeichen setzen.

Glauben Sie, dass es die Bundesregierung nicht ernst meint mit ihren Plänen für die Bundeswehr?

Olaf Scholz hat im Bundestag eine bemerkenswerte Regierungserklärung abgegeben. Die ich so in der Form nicht für möglich gehalten hätte. Wenn Scholz seinen Worten nun Taten folgen lassen wird, könnte er in die Fußspuren Helmut Schmidts treten, der in Sachen Sicherheitspolitik der mit Abstand klügste Kopf der SPD seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen ist.

Und der etwa den Nato-Doppelbeschluss zur Stationierung von atomar bestückten Mittelstreckenraketen in Deutschland Anfang der 1980er-Jahre auch gegen heftigen Widerstand der eigenen Partei vertreten hat.

Schmidt hatte ein klares sicherheitspolitisches Koordinatensystem, an dem er sich orientierte. Jetzt kommen wir auch zu dem schon erwähnten Fragezeichen. Und zwar, ob sich Scholz' Pläne so verwirklichen lassen. Ersten Widerstand hat es ja auch bereits in der SPD und bei den Grünen gegeben. Wir haben in Deutschland eine politische Kultur, die es ablehnt, das Militärische zu denken. Mit einer einzigen Regierungserklärung wird sich diese Mentalität nicht ändern lassen. Das wird nur möglich durch den entsprechenden Druck seitens der Bevölkerung und der Medien.

Wie steht denn die Bevölkerung der Bundeswehr und bewaffneten Einsätzen im Ausland gegenüber? Die Mission in Afghanistan endete im letzten Jahr im Desaster.

Afghanistan ist ein gutes Stichwort. Sämtliche Umfragen zeigen immer wieder, dass die Einstellung großer Teile der Bevölkerung der Bundeswehr gegenüber positiv ist. Die Deutschen akzeptieren auch Kampfeinsätze im Ausland – wenn ihnen dafür plausible Gründe von der Politik genannt werden. Und genau darin bestand ein eklatantes Problem beim deutschen Afghanistan-Einsatz. Allein die amerikanischen Verbündeten am anderen Ende der Welt unterstützen zu müssen, griff als Argument ziemlich kurz. So haben die Deutschen dem Afghanistan-Einsatz dann auch ablehnend gegenübergestanden, als dort die Kämpfe zunahmen.

Hatte die Politik Angst davor, den Deutschen reinen Wein einzuschenken, wie gefährlich die Welt ist?

Die deutsche Politik war immer zu ängstlich, oft waren Teile der Öffentlichkeit und der Medien viel weiter in der Diskussion, was sicherheitspolitische Bedrohungspotenziale gegen Deutschland und Europa betrifft.

Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel fuhr gerne einen Kurs, der so gut wie keine Angriffsfläche gegen sie bot.

Helmut Schmidt und sein Nachfolger Helmut Kohl von der CDU haben die Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses einst durchgesetzt, obwohl 300.000 Demonstranten im Bonner Hofgarten dagegen protestiert haben. So etwas wäre unter Angela Merkel niemals denkbar gewesen.

Der Bereich der Sicherheitspolitik führte in der Regierung Merkel ein Schattendasein.

Die Politik kann einen solchen Bereich nur füllen, wenn sie eigene Überzeugungen dazu hat. Stattdessen herrschte unter Merkel intellektuelle Leere in der Sicherheitspolitik. Scholz hat schnell gemerkt, dass sich Deutschland mit seinem Kurs nach Beginn des Ukraine-Krieges international ins Abseits manövrierte. Und auch deswegen die "Zeitenwende" eingeleitet.

Die Bundesregierung unter Merkel hatte die Vorstellung gehegt, dass Kriege keine Lösungen bieten.

Und genau diese Vorstellung ist schlichtweg falsch. In Syrien haben Russland, die Soldaten des Assad-Regimes und die vom Iran unterstützte Hisbollah den Bürgerkrieg militärisch gelöst. In Georgien hat Putin 2008 den möglichen Nato-Beitritt des Landes durch den Einsatz seines Militärs verhindert. Das sind nur zwei Beispiele. Deutschland lebte einfach zu lange in einer Traumwelt. Aber da draußen in der Wirklichkeit gibt es – leider – Menschen wie Putin, die dazu bereit sind, ihre politischen Ziele mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Es ist unfassbar, wie naiv die deutsche Politik lange war.

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Nun muss die Bundeswehr ihren Namen wieder verdienen, was jahrelange Anstrengungen erfordern wird. Wie kann der Westen der Ukraine, die um ihre Existenz kämpft, aber nun am besten helfen?

Der Westen unterstützt die Ukraine bereits massiv – und ermöglicht ihr auch, den Krieg in diesem Umfang weiterführen zu können. Etwa durch Waffenlieferungen, darüber hinaus hat der Westen Russland weitreichenden Sanktionen unterworfen. Jeder weitere Schritt könnte aber zum Dritten Weltkrieg hinführen. Etwa die Einrichtung einer Flugverbotszone über der Ukraine. Russland ist eine Atommacht – und die Ukraine nicht Mitglied der Nato.

Wie lange werden sich die Ukrainer der russischen Armee erwehren können?

Putin hatte einen schnellen Enthauptungsschlag geplant, das ist ihm missglückt. Nun bringt Russland seine gesamte Militärmacht peu à peu zum Einsatz. Die Frage ist, wie lange die Ukraine und Russland den Krieg durchhalten können. Die heutigen Armeen sind nicht mehr für jahrelange Auseinandersetzungen konzipiert, das waren sie selbst im Kalten Krieg nicht.

Dass die russische Armee nicht so erfolgreich gewesen ist, wie von Putin gewünscht, verleitet nun manche Beobachter zu der Annahme, dass die Ukraine den Krieg sogar gewinnen könnte. Was halten Sie von solchen Äußerungen?

Die ukrainische Armee kämpft mit einer unglaublichen Moral. Aber die Ukrainer kämpfen auch mit dem Rücken zur Wand, da sollten wir uns nichts vormachen. Für die ukrainischen Soldaten stellt sich nicht die Frage, ob sie den Krieg gewinnen können, sondern ob es ihr Land in drei oder vier Wochen überhaupt noch geben wird. Russlands Streitkräfte haben bislang die Luftwaffe kaum eingesetzt, auch die Meldungen um die schlechte Moral bei den russischen Soldaten müssen keineswegs für die gesamte Truppe gelten.

Wie lange wird die Ukraine durchhalten?

Das ist schwer zu sagen. Kriegsgerät verbraucht sich, selbst wenn Nachschub aus dem Westen kommt. Und auch wenn die russischen Verluste größer sind, so verlieren die Ukrainer ebenfalls Soldaten. Sagen wir so: Es verhält sich ein wenig wie bei Preußen unter Friedrich dem Großen im Siebenjährigen Krieg: Wenn die Ukraine den Krieg nicht verliert, gewinnt sie ihn.

Gibt es denn eine Schwelle an Verlusten, die auch für Wladimir Putin das Signal zum Waffenstillstand wäre? Die Geschichte Russlands zeigt, dass die Herrscher im Kreml stets wenig Rücksicht auf die eigenen Soldaten genommen haben.

Wir sehen die Dimensionen eines großen Krieges – und da sind 10.000 Tote für Moskau nicht viel. So zynisch das auch klingen mag. In Deutschland haben wir wirklich vergessen, was Krieg bedeutet: Soldaten sterben, Zivilisten sterben. Der Krieg kann unter Umständen noch viele Wochen mit hohen Verlusten weitergehen, bis Putin seine Ziele erreicht hat. Die Regierung von Wolodymyr Selenskyj will der Kreml sicher stürzen, dazu das ukrainische Militär zerschlagen und dann die Ukraine in einen Vasallenstaat verwandeln. Wie es weitergehen wird, hängt aber auch sehr von der ukrainischen Bevölkerung ab. Wenn sie in den Guerillakrieg übergeht, kann es noch sehr blutig werden.

Also hat sich Putin in eine Situation gebracht, in der er in gewisser Weise nur verlieren kann?

Politisch und wirtschaftlich hat Putin den Krieg bereits verloren, ihm bleibt nur die militärische Lösung. Wie gesagt: Mit ist wirklich schleierhaft, wie Russland die Ukraine mittel- und langfristig beherrschen will, mit jedem Schuss wird der Hass auf Putin noch stärker.

Irgendwann wird dieser Krieg hoffentlich enden. Wie sollte der Westen dann mit Russland umgehen?

Man wird einen Weg finden müssen, mit Russland umzugehen. So wie wir es auch mit China und anderen Diktaturen tun. Es bleibt uns auch keine andere Wahl: Russland ist nicht nur das größte Land der Erde, sondern auch eine Atommacht und somit per se Teil der internationalen Sicherheitsarchitektur. Dazu werden wir weiterhin etwa Gas von dort beziehen, nur in deutlich geringerem Ausmaß.

Immer wieder werden auch Spekulationen über Putins Geisteszustand geäußert. Er sei frustriert, wird einerseits behauptet, dann wieder soll er jeden Bezug zur Realität verloren haben.

Putin ist durchaus bei vollem Verstand. Zu behaupten, er wäre verrückt oder dergleichen, drückt hingegen nur die eigene Hilflosigkeit aus. In unserer deutschen Denkweise ist Krieg kein Mittel der Politik, das ist er für Putin aber durchaus. Und das erscheint manchen Leuten dann als "verrückt".

Nun wird immer wieder der Vergleich der Jahre 2022 und 1938/39 gezogen, als Hitler in München die Abtretung der sudetendeutschen Gebiete von der Tschechoslowakei erzwang, um dann doch weiter seine Kriegspläne in Europa voranzutreiben. Hätte uns der Blick zurück warnen können?

Mit den Lehren aus der Geschichte ist es so eine Sache. Wir müssen aber gar nicht so weit zurückgehen mit der Geschichtslektion: 2008 hat Putin in Georgien interveniert, 2014 die Krim annektiert und den Krieg in der Ostukraine ausgelöst. Dass die damalige Bundesregierung nach diesen Konflikten keine echte Reform und Modernisierung der Bundeswehr eingeleitet hat, finde ich bis heute erstaunlich. Das muss man Angela Merkel wirklich ankreiden.

Also können wir keine Lektion aus dem Zweiten Weltkrieg ziehen?

Doch. Und zwar, dass die Welt ein sehr gefährlicher Ort ist und Menschen beherbergt, für die der Frieden kein Selbstzweck ist. Diese Lehre hätte tief in unserem politischen Gedächtnis verankert sein sollen. Nun hat Putin von unserer Geschichtsvergessenheit profitiert.

Professor Neitzel, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Sönke Neitzel per Telefon
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