Putins Kriegsdrohung "Ein gefundenes Fressen für die russische Luftwaffe"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russische Verbände stehen an der Grenze, bereit für eine Invasion. Militär- und Russlandexperte Gustav Gressel bewertet die Kriegsgefahr als hoch und erklärt, wie Russland bei einem Angriff auf die Ukraine vorgehen würde.
Die Lage ist ernst. Tausende russische Soldaten und Panzerverbände wurden an die ukrainische Grenze verlegt – sie sind bereit für eine Invasion. Der Kreml schickt weitere Truppen nach Belarus, und die Ukraine sieht sich mit einem Szenario konfrontiert, in dem die russische Armee aus mehreren Himmelsrichtungen vorrücken könnte. Erste westliche Staaten reagieren bereits: Großbritannien und die USA ziehen ihr Botschaftspersonal aus Kiew ab. Ein deutliches Alarmsignal.
Aber riskiert der russische Präsident Wladimir Putin wirklich einen Krieg und damit die drastischen Konsequenzen, die ein Feldzug für Russland haben würde?
Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations", erklärt im Interview mit t-online, wie Moskau bei einem Angriff auf die Ukraine vorgehen würde und wie groß die Chance für die ukrainischen Truppen wäre, sich gegen die Atommacht Russland verteidigen zu können.
t-online: Herr Gressel. Seit vielen Wochen versuchen wir vorauszusehen, was der russische Präsident Wladimir Putin wohl als Nächstes tun wird. Ist die Gefahr eines russischen Angriffs auf die Ukraine realistisch?
Gustav Gressel: Die Kriegsgefahr ist hoch. Russland unterschätzt die gesellschaftliche Dynamik in der Ukraine und überschätzt den Willen des Westens, das Land gegen eine russische Invasion vielleicht doch verteidigen zu wollen. Das ist brandgefährlich.
Warum?
In Moskau unterschätzt man die Kosten eines Angriffs auf die Ukraine. Man sieht nicht, dass ein Großteil der wehrfähigen Bevölkerung bereit ist, sein Land zu verteidigen. Die militärischen Vorbereitungen, die wir aktuell sehen, lassen auf einen konventionellen Angriff schließen. Spezialkräfte, die Aufstände niederschlagen und die innere Ordnung herstellen können, sind bisher nur im geringen Umfang mobilisiert worden. Das kann sich aber noch ändern.
Was sind Putins Ziele im Ukraine-Konflikt?
Moskau fordert ein russisches Mitspracherecht in der ukrainischen Politik und möchte die jetzige Regierung bestenfalls durch eine andere ersetzt haben. Das Problem: Wenn militärischer Druck von Russland nicht ausreicht, um die politischen Verhältnisse in der Ukraine zu verändern, dann könnte der Kreml zu der Erkenntnis kommen, dass sie bis Kiew vorstoßen müssen, um das selbst zu regeln. Das erhöht die Invasionsgefahr.
Das Säbelrasseln der vergangenen Monate und durchgestochene russische Angriffspläne: Das klingt eher so, also ob Russland ein Bedrohungsszenario aufbauen möchte, um seine Verhandlungsposition zu stärken. Spricht das nicht gegen einen Krieg?
Nein. Die ukrainische Armee ist stärker als noch im Jahr 2014. Russland muss also mehr Kräfte zusammenziehen, um eine Entscheidung herbeiführen zu können. Bei der Annexion der Krim war das anders: Mit der Schwarzmeerflotte hatte man schon Kräfte vor Ort und die Olympischen Winterspiele in Sotchi gaben Moskau international eine Ausrede dafür, Kräfte für den schnellen Eingriff in der Krasnodar-Region zusammenzuziehen. Dieses Überraschungsmoment hat Russland diesmal nicht.
Trotzdem wäre ein Angriff sehr teuer für Russland.
Es könnte teurer sein. Ich halte leider auch einen Krieg für wahrscheinlicher, weil die Nato und vor allem die USA eine militärische Unterstützung der Ukraine früh ausgeschlossen haben. Es ist ein völliger Unterschied bei der Planung, ob ich die Ukraine militärisch schlagen muss oder ob ich verhindern müsste, dass die Nato Unterstützung schickt und ich diese Versorgungslinien unterbrechen muss. Das verkompliziert die militärische Planung enorm.
Aber eine militärische Unterstützung der Ukraine hätte keinen Rückhalt in der Bevölkerung. Das schreckt viele Nato-Staaten ab.
US-Präsident Joe Biden hätte es gar nicht aussprechen müssen. Es ist unwahrscheinlich, dass die USA in einen Krieg mit Russland für ein Nicht-Nato-Mitglied einsteigen würden. Aber er hätte Moskau in ihrer Paranoia leben lassen können, dass diese Option auf dem Tisch liegt. Das hätte aus russischer Sicherheit einen viel höheren Abschreckungswert als das Drohen mit Sanktionen.
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Warum lässt Moskau den Konflikt gerade jetzt eskalieren?
Russland fürchtet sich in erster Linie vor den Amerikanern und der Nato – und die sind momentan relativ schwach. Deutschland schaltet sich selbst aus und auch in der Biden-Administration in den USA gibt es politische Grabenkämpfe. Das Weiße Haus möchte eigentlich eher auf Russland zugehen und das Thema möglichst schnell abhaken, während das Außenministerium gerne eine aktivere Rolle der USA im Ukraine-Konflikt hätte. Hinzu kommt der innenpolitische Druck, unter dem US-Präsident Biden steht. Das alles sieht Putin als Chance für Russland.
Deutschland schaltet sich selbst aus?
Weil dem Kanzler die Diskussion völlig entglitten ist. Dass mittlerweile auch Nord Stream 2 zur Diskussion steht und es eine enge Koordination des Auswärtigen Amtes mit den Verbündeten zu Sanktionen gibt, geht unter, weil die Diskussion um den Export von alten DDR-Haubitzen und die Äußerungen von Außenministerin Annalena Baerbock zum Export von Waffen alles überlagern. Dann kommt noch ein deutscher Admiral mit fragwürdigen Äußerungen hinzu. In Deutschland ahnt man gar nicht, wie schwer das Image der Bundesrepublik in der letzten Woche gelitten hat. Niemand in Europa glaubt noch, dass aus Deutschland etwas Konstruktives kommen könnte.
Was wäre denn der innenpolitische Vorwand des Kremls für einen Krieg?
Aus offizieller Sicht ist die Ukraine eine Gefahr für die nationale Sicherheit, weil sie der Nato beitreten will und weil dann atomare Mittelstreckenraketen in dem Land stationiert werden würden. Der Kreml sieht die ukrainische Regierung als illegitime Junta, die die Russisch sprechende Bevölkerung unterdrückt und vertreiben möchte. Das ist natürlich nicht wahr, aber die russische TV-Propaganda bedient dieses Narrativ seit Jahren.
Die ukrainische Armee ist besser aufgestellt als noch 2014. Aber hätte sie militärisch überhaupt eine Chance gegen Russland?
Gegenwehr könnte die ukrainische Armee schon leisten, aber die Luftüberlegenheit auf russischer Seite würde ihnen zu schaffen machen.
Welche Folgen hat diese Luftüberlegenheit für die Ukraine?
Wenn die Ukraine weiß, wo die russische Armee vorrückt, müsste sie die eigenen Kräfte aus den defensiven Positionen lösen, die nicht beansprucht werden. Diese Truppenbewegungen sind ein gefundenes Fressen für die russische Luftwaffe. Diese hätte wahrscheinlich zwei bis drei Tage damit zu tun, die ukrainische Luftwaffe auszuschalten. Aber danach hätte man Kapazitäten, um die ukrainischen Bewegungen ins Visier zu nehmen. Das ist ein großes Problem für die Ukraine, weil sie dann nicht mehr auf Lageveränderung reagieren kann.
Wie könnte eine russische Invasion aussehen?
Die ukrainische Armee sichert momentan die ganze Grenze von Brest bis hinunter zur Krim. Russland würde wahrscheinlich an mehreren Stellen, an denen es geografisch Sinn ergibt, mit konzentrierten Kräften in die Ukraine eindringen. Wir sprechen hierbei wahrscheinlich von Panzerkeilen aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen.
Sie würden demnach von einem Angriff an vielen Fronten ausgehen?
Ja. Ich glaube aber nicht, dass der Kriegsausbruch über Nacht kommt. Ich könnte mir vorstellen, dass Moskau zunächst testet, wie geeint der Westen ist und unter welcher Kriegslast die Ukraine zusammenbrechen und russische Bedingungen akzeptieren würde. Das heißt: Zu Beginn könnte es zunächst eine Offensive der ukrainischen Separatisten aus dem Donbas sein, aber das könnte Moskau dann auf weitere Territorien ausweiten und den Krieg weiter eskalieren.
Könnte die ukrainische Armee diesem Szenario etwas entgegensetzen?
Die ukrainische Armee hat schon ihre Fähigkeiten ausgebaut, aber durch die russische Luftherrschaft wird sie nicht auf taktisch-operative Lageänderungen adäquat reagieren können. So kann man zwar tapfer kämpfen, aber nicht gewinnen. So lässt sich kein Krieg gewinnen.
Das ist beachtlich: Vor zwei Jahrzehnten hatte man im Westen noch über eine russische Armee gescherzt, die vor Rost nicht fahren kann. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Nach dem Georgienkrieg 2008 gab es in Russland eine große Militärreform. Vor allem die Struktur der Streitkräfte hat sich tiefgehend verändert: der logistische Bereich, die Ausbildung, die Führung und das Karrieresystem wurden grundlegend neugestaltet. Das hat die Effizienz deutlich verbessert und der Westen hat diese Entwicklungen verschlafen.
Warum verschlafen?
Weil die Debatte im Westen vor allem von einem Diskurs über Militärtechnik bestimmt wird. Welche Panzer benutzt die russische Armee, welches Radar wird verwendet? Kriegsführung heißt aber, dass man große, menschliche Apparate in den Kampf schicken muss. Je besser Staaten die Organisation und Ausbildung ihrer Streitkräfte hinbekommen, desto mehr können Mängel bei Material und Ausrüstung ausgewogen werden. In Bezug auf Russland haben wir uns lange von den rüstungsindustriellen Aspekten blenden lassen, aber auch alte, modernisierte Panzer können töten.
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Aber auch technologisch hat die russische Armee zugelegt. Oder ist die Propaganda mit neuen Kampfflugzeugen und Panzern nur eine Verkaufsstrategie?
Natürlich hat Russland neue Kampfflugzeuge und Panzer entwickelt, die man bewusst bewirbt, um sie im Ausland besser verkaufen zu können. Zum Beispiel den Armata-Panzer kann Russland noch gar nicht in großer Stückzahl produzieren, weil durch die Sanktionen des Westens Komponenten fehlen. Der Westen macht aber einen Fehler: Er schaut immer mit der eigenen strategischen Brille auf die Streitkräfte anderer Länder. Beispielsweise in Syrien war man dann überrascht, wie groß der Schaden durch einfache Artillerie – ohne viel Luftunterstützung – sein kann, wenn diese taktisch geschickt eingesetzt wird. Die große Stärke der russischen Armee liegt in der Organisationsfähigkeit ihrer Streitkräfte.
Was heißt das für die Ukraine?
Wir haben in etwa 60 russische Bataillonskampfgruppen, die um die Ukraine stationiert sind – mindestens zehn weitere sind auf dem Weg nach Belarus und zehn bis zwanzig stehen im Donbas. Wenn man das alles zusammenzählt, kommt man auf die dreifache Stärke der "Nato Response Force". Moskau behauptet, insgesamt 160 Bataillonskampfgruppen aufstellen zu können, ohne Wehrpflichtige oder Reservisten heranziehen zu müssen. Fragen Sie mal in der Bundeswehr nach, wie viel Deutschland aufstellen könnte, wenn morgen ein Krieg ausbrechen würde. Russland hat die Mobilisierung bei großen Manövern in den vergangenen Jahren immer wieder geprobt.
Nato-Staaten haben nun angekündigt, Truppen nach Osteuropa verlegen zu wollen. Würde sich dadurch das Kräftegleichgewicht verändern?
Nein, da es sich nur um eine begrenzte Zahl handelt. Das ist eher ein Signal an Russland, dass es durch seine Aktionen in der Ukraine seine eigene strategische Situation an der Nato-Ostflanke negativ beeinflussen wird. Es wird ja offengelassen, wie viele noch kommen könnten. Das wiederum könnte Putin zu denken geben, ob er das Risiko eingeht. Oder doch lieber den Abzug dieser Truppen als diplomatischen Sieg feiern will.
Wo liegen die Schwächen der russischen Armee?
Im Libyen-Krieg und in Bergkarabach zeigte sich eine Schwäche der russischen Luftabwehr gegen türkische Drohnen und elektronische Kampfführungsmittel. Der große Teil der älteren russischen Militärtechnologie hat einen dringenden Digitalisierungsbedarf, die neueren Systeme sind aber vergleichsweise gut gesichert.
Trotz der militärischen Stärke Russlands wirkt eine mögliche Invasion in der Ukraine für Putin noch immer wie ein Himmelfahrtskommando. Moskau ist auf seine Rohstoffexporte nach Europa angewiesen und will die westlichen Sanktionen loswerden. Ist der Präsident nicht völlig vom Kurs abgekommen?
Putin schießt sich ins eigene Knie. Die Ukraine war in den Neunzigern kein antirussischer Staat. Die Orientierung in Richtung Westen hat Russland selbst bewirkt, weil der Kreml sich in die inneren Angelegenheiten des Landes eingemischt hat. Moskau hat die Ukraine durch die Politik der vergangenen 30 Jahre in Richtung Westen gepusht. 2014 war die Annexion der Krim, aber auch davor gab es schon zahlreiche Nadelstiche und Verletzungen. Das muss sich Russland selbst auf die Fahnen schreiben.
Ähnlich wie die wirtschaftlichen Folgen, die ein Krieg für Russland haben würde?
Es ist zumindest sehr kurzsichtig von Putin. Moskau nimmt nicht wahr, dass Europa eigene sicherheitspolitische Interessen hat und dass es diese höher als wirtschaftliche Interessen priorisieren würde. Da könnte sich der russische Präsident verrennen, obwohl die zögerliche Reaktion der Europäer Moskau in die Karten spielt.
Im Falle eines Krieges wäre Putin zumindest noch stärker international isoliert.
Der Aufstieg Chinas und die Corona-Pandemie haben aus russischer Sicht die Welt komplett verändert. China will sich in absehbarer Zeit Taiwan einverleiben und das nährt in Moskau die Auffassung, dass man im Ernstfall nicht allein gegen die Nato stehen würde. Russland sieht auch, dass in der Pandemie unser demokratisches Modell weniger gefestigt ist und dass Solidarität weniger ausgeprägt ist, als man das gedacht hat. Die russische Lesart: Der Westen steht auf tönernen Füßen und ihr Getöse sind nicht ernst zu nehmen.
Russland könnte demnach mehr Handlungsspielräume bekommen, wenn sich die USA mit Moskau und Peking befassen müssen.
Ja, genau.
Aber das Verhältnis zwischen Russland und China ist auch nicht einfach. Die Volksrepublik beansprucht den Platz in der Weltordnung, den die Sowjetunion knapp 50 Jahre hatte.
Deswegen betont man in Russland immer, dass man auf Augenhöhe mit der Volksrepublik ist. Der Aufstieg Chinas hat für Moskau Chancen und Risiken, aber der Kreml kommt dabei für sich auf eine positive Rechnung, weil sich dadurch mehr machtpolitische Optionen in Osteuropa ergeben. Putin nimmt die USA ernst, nicht die EU – und Washington könnte sich nur schwer gegen Russland und China in unterschiedlichen Krisenherden behaupten.
Vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Gustav Gressel