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Streitgespräch: "Deutsche Überheblichkeit macht Probleme der EU nicht leichter"


"Sie haben sich gefreut, dass die Briten uns verlassen?"


Aktualisiert am 01.07.2020Lesedauer: 11 Min.
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Franziska Brantner und Peter Gauweiler: Im Streitgespräch bei t-online.de diskutierten die Grünen-Politikerin und der ehemalige CSU-Bundestagsabgeordnete über den Zustand der EU.Vergrößern des Bildes
Franziska Brantner und Peter Gauweiler: Im Streitgespräch bei t-online.de diskutierten die Grünen-Politikerin und der ehemalige CSU-Bundestagsabgeordnete über den Zustand der EU. (Quelle: Robert Recker)

Global wird der Ton in der Politik rauer, auch im Inneren der EU kriselt es. Die Grünen-Politikerin Franziska Brantner und CSU-Mann Peter Gauweiler streiten über den richtigen Weg für Europa.

Die EU wird geliebt, sie wird gehasst – und manchen ist sie völlig egal. Letzeres kann man kaum über Peter Gauweiler sagen. Der CSU-Politiker legte 2015 aus Unzufriedenheit mit der EU-Rettungspolitik für Griechenland sein Bundestagsmandat nieder. Wie Gauweiler kennt sich auch Franziska Brantner hervorragend in der Europäischen Union aus, doch sie ist noch in der Politik aktiv: Die Grünen-Politikerin saß im Europäischen Parlament, heute ist sie für ihre Fraktion europapolitische Sprecherin im Bundestag.

Zum Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft trafen sich die Europapolitikerin Brantner und EU-Kritiker Gauweiler in der t-online.de-Redaktion zum Streitgespräch. Eine Auseinandersetzung über Milliardenhilfen für Mitgliedsstaaten, Donald Trump und die Frage, wohin Deutschland Europa nun in den nächsten Monaten führen muss.

t-online.de: Vor Kurzem sagte die Kanzlerin im Bundestag: "Europa braucht uns, so wie wir Europa brauchen." Dieser Satz könnte auch im Wahlprogramm der Grünen stehen wie zufrieden sind Sie mit dem Europa-Kurs der Kanzlerin?

Franziska Brantner: Sagen wir es mal so: Die Worte der Kanzlerin gehen in die richtige Richtung. Corona hat einmal mehr gezeigt, dass wir untergehen, wenn wir nicht zusammenhalten. Aber ob diese wolkigen Ankündigungen von Angela Merkel dann in konkrete Politik gegossen werden, das müssen wir sehen.

Peter Gauweiler: Es stimmt, in der Europa-Debatte wird viel leeres Stroh gedroschen. Zu Frau Merkels Worten muss ich aber sagen: Von Einheit im Sinne von Vereinheitlichung halte ich nichts. Das ist zum Selbstzweck geworden.

Was wünschen Sie sich denn für die sechs Monate deutscher EU-Ratspräsidentschaft?

Brantner: Europa muss am Ende der Krise besser dastehen als zu Beginn, nachhaltiger, gerechter und souveräner. Wir müssen außerdem eine europäische Gesundheitsunion voranbringen, damit wir im Falle einer zweiten Welle oder einer neuen Pandemie besser gewappnet sind und nicht wieder in, wie Kanzlerin Merkel sagte, unvernünftige, nationale Reflexe verfallen. Dafür brauchen wir dringend einen starken europäischen Haushalt und ein relevantes europäisches Konjunkturprogramm. Damit diese Milliarden auch wirklich diesem Ziel dienen, sollte endlich darüber diskutiert werden, wofür wir das Geld der Hilfspakete investieren. Seit Wochen wird nur über die exakte Höhe dieser Beträge diskutiert.

Gauweiler: Was ja auch sehr vernünftig ist, denn es geht um Hunderte Milliarden Euro! Da sollte man vorher durchaus nachdenken und debattieren, wie man dieses Geld sinnvoll einsetzen kann.

Brantner: Leider verhindert die Debatte um die Höhe oft die Debatte über das Wofür. Die europäischen Konjunkturmilliarden müssen in den Klimaschutz und die Digitalisierung investiert werden und an die Einhaltung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit geknüpft werden. Ich wünsche mir, dass sich die deutsche Ratspräsidentschaft dafür einsetzt. Zudem müssen wir in dieser Ratspräsidentschaft Europa souveräner machen und dazu unseren Beitrag leisten, dass die EU geschlossen beim EU-China-Gipfel auftritt. Das erfordert zum Beispiel eine andere deutsche 5G-Politik mit Blick auf Huawei.

Franziska Brantner, Jahrgang 1979, ist seit 2013 Abgeordnete des Deutschen Bundestages und dort Sprecherin für Europapolitik der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Zuvor war die Sozialwissenschaftlerin Mitglied des Europäischen Parlaments.
Peter Gauweiler, Jahrgang 1949, war lange Jahre Mitglied des Bayerischen Landtags, später des Deutschen Bundestags. Von 2013 bis 2015 bekleidete der Rechtsanwalt das Amt eines stellvertretenden Vorsitzenden der CSU.

Und Ihre Erwartungen, Herr Gauweiler?

Gauweiler: Mehr Respekt für das Europa der Regionen und der gewachsenen Einheiten. Mein Lieblingskontinent wäre ein Europa als die Schweiz der Welt. Ja zum gemeinsamen freiheitlichen Rahmen, aber so viel selbstbestimmte Regelungsgewalt für die "Kantone", wie es geht. Daran sollte das föderale Deutschland als Erstes während seiner Ratspräsidentschaft erinnern.

Zweitens: Wir brauchen Glasnost am Mittelmeer – die Europäische Union darf sich nicht auf das Ja oder Nein zur Seenotrettung reduzieren lassen. Es geht um eine Anstrengung ganz anderer Art. Wie zu Zeiten unserer Urgroßeltern die Bagdadbahn und der Suezkanal in den Blick genommen wurden, müssen große Dinge gewagt werden: ein Dubai im Gazastreifen, ein Singapur an der libyschen Küste. Bei den Chinesen und ihrem maritimen Seidenstraßenprojekt von Port Said bis Casablanca könnte die EU sich diesbezüglich mehrere Scheiben abscheiden.

Zu guter Letzt wünsche ich mir einen Einsatz Berlins zu einer demokratischen Teilhabe in Europa, die diesen Namen verdient. Es gilt, der Gefahr zu wehren, dass supranationale Organisationen wie die EU die Menschen von ihren mühsam erkämpften Grundfreiheiten wieder abschneiden. Der Hinweis auf diese Gefahr, liebe Frau Brantner, stammt übrigens von Jürgen Habermas.

Brantner: Oh, Habermas. Die CSU zitiert einen Vordenker der Grünen, das gefällt mir.

Gauweiler: Habermas ist ja ein großer Freund der supranationalen Idee und damit auch der EU. Er sieht in der Europäischen Union einen Schritt auf dem Weg zu einer politisch verfassten Weltgesellschaft und plädiert gerade deshalb dafür, an ihr festzuhalten. Habermas war aber so frei, auch die Problematik dieses Festhaltens offen auszusprechen, was für ihn spricht: Es bestehe die Gefahr, dass supranationale Organisationen verstärkt den erreichten Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie zerstören können.

Und dass durch eine weltweit verselbstständigte Exekutivgewalt der demokratische Souverän von seinen Rechten enteignet wird. Ich nenne es die Gefahr, dass die einzelnen Menschen in einem riesigen Kontinentalstaat "verameisen". Nicht mehr die gewählte Volksvertretung und die Regierung des eigenen Landes ist zuständig, sondern ein demokratisch nicht legitimiertes stahlhartes Gehäuse über ihr.

Brantner: Diese Gefahr besteht in der Tat, wenn sich die Menschen nicht mit Europa identifizieren können, wenn es nicht ihr Europa, also das Europa der Bürgerinnen und Bürger, ist. Gerade deshalb also brauchen wir Teilhabe, mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Ökologie. Deswegen wollen wir Grüne auch die Rechte aller EU-Bürgerinnen und -Bürger in einer europäischen föderalen Republik stärken. Deren Grundlage wäre die europäische Grundrechtecharta. Wenn jede Bürgerin, jeder Bürger, egal ob in Bulgarien, Baden oder Schweden, die darin enthaltenen Grundrechte gegenüber den jeweiligen Regierungen einklagen könnte, das wäre mal ein Schritt nach vorn, für alle Bürger dieses Kontinents.

Denn klar ist auch: Wenn wir Europäer nicht zusammenhalten, wenn wir keine gemeinsamen Entscheidungen fällen, dann sind wir bald als Kontinent eine Ameise! Und rechts und links stehen die Riesen USA und China. Außerdem gibt es keine verselbstständigte Exekutivgewalt, das Europäische Parlament ist ein starker Akteur, auch wenn wir Grüne ihm noch mehr Rechte geben wollen. Übrigens ist das Europäische Parlament wesentlich transparenter als der Bundestag. Lobbyregister, Offenlegung aller Nebeneinkünfte und öffentlich tagende Ausschüsse – da kann sich der Bundestag eine Scheibe abschneiden.

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Gauweiler: Der britische Premierminister Winston Churchill hielt 1946 an der Universität in Zürich eine historische Rede über die Zukunft Europas. Dabei fiel das berühmte Wort von den "Vereinigten Staaten von Europa". Churchill ging es in seiner Vision aber um einen Kontinent, der endlich jenseits des historischen Freund-Feind-Denkens prosperieren kann – ähnlich wie die Schweiz, auf die er sich ausdrücklich bezog. Ich wurde letztes Jahr von der gleichen Universität für einen Vortrag eingeladen, diese Idee Winston Churchills in das Heute zu übersetzen. Für Franziska Brantner habe ich das Manuskript mitgebracht (reicht das Papier herüber).

Brantner: Ich kann Ihren Wunsch gut verstehen; was wäre es schön, wenn wir einfach die neutrale Schweiz sein könnten! Aber sehen Sie: Politik beginnt doch mit der Betrachtung der Realität. Wir haben als geeintes Europa auch Verantwortung zu tragen. Und dazu gehört, so unbequem das manchmal ist, Position zu beziehen. Das unterscheidet uns von der Schweiz. Es gibt außerdem zu viele Akteure um uns herum, die keinerlei Respekt vor der Europa-Schweiz hätten.

Gauweiler: Dafür hält sich die echte Schweiz in Europa und der Welt aber ganz gut, finden Sie nicht?

Brantner: Das lässt sich natürlich nicht übertragen und das wissen Sie auch ganz genau. In Washington sitzt ein Präsident, der die EU als Feind bezeichnet, in China ein machthungriger Autokrat und in Moskau der aggressive Wladimir Putin. Da können wir nicht einfach den neutralen Mittelsmann spielen, wir müssen als Einheit geschlossen auftreten, um unsere eigenen Interessen und die liberale Demokratie zu verteidigen.

Gauweiler: Europa geht doch weit über die Brüsseler EU hinaus. Wir müssen den Kontinent in seiner Gesamtheit im Blick behalten, wie er beispielsweise in der Europäischen Menschenrechtskonvention zusammengefasst ist, also auch Norwegen und die Schweiz, der Balkan, alle osteuropäischen Länder einschließlich Russland und sogar die Türkei.

Also sollte die Türkei dann der EU bald schon beitreten dürfen?

Gauweiler: Istanbul steht für die Nachfolge von Konstantinopel, das mit Rom und Moskau zu den drei Städten gehört, ohne die die Geschichte Europas nicht erzählt werden kann. Es geht um eine grundsätzliche Verbundenheit unseres Teils der Erde, die durch kluge Politik befördert wird. Solch eine gesamteuropäische Idee verlangt natürlich ein wenig Fantasie, aber in diese Richtung sollten wir uns auch in der Ratspräsidentschaft bewegen und nicht nur auf öffentliche Verdammung missliebiger Regierungen setzen.

Brantner: Herr Gauweiler, kulturelle Verbundenheit – das heißt in Europa: ein klares Bekenntnis zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Das sehe ich derzeit weder in der Türkei noch in Russland gegeben. Deswegen bedeutet Ihr Vorschlag de facto doch, die EU zu einem lockeren Staatenbund zu formen!

Gauweiler: Wenn Sie das so nennen wollen.

Doch in der Corona-Pandemie erstarkten die einzelnen Staaten, die Ländergrenzen wurden zeitweise völlig geschlossen.

Brantner: Das stimmt, deshalb brauchen wir gerade und auch im Gesundheitsbereich ein engeres europäisches Zusammenarbeiten: eine effektive gemeinsame Krisenbekämpfung in künftigen Krisen. Aber an der Idee von Herrn Gauweiler stört mich noch etwas. Wenn wir weniger Einigkeit wollen, dann öffnen wir den Autokratien in unserer Nachbarschaft Tür und Tor.

Was meinen Sie?

Brantner: Ich meine beispielsweise den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán, Herr Gauweiler. Sie wissen, dass er die Pressefreiheit massiv eingeschränkt hat und die Macht des Parlaments in der Krise beschneidet? Wenn es nach Ihnen ginge, könnte er damit ja munter weitermachen, weil die EU als loser Staatenbund ohne gemeinsames Wertefundament eher weniger dominant auftreten soll.

Gauweiler: Bitte nicht böse sein – aber Ungarn halte ich für einen sehr erfolgreichen Staat. Sie nennen das autoritativ, ich finde "konservativ" das treffendere Wort. Sie selbst haben kürzlich in einem Ihrer Gastbeiträge doch bemängelt, in Deutschland würde während der Corona-Krise eine Art Halbdiktatur aufgerichtet. In Ungarn sind im Gegensatz zu uns die angeprangerten Einschränkungen vom Parlament schon wieder weitgehend aufgehoben worden.

Dafür wurden bereits wieder andere Gesetze, die der ungarischen Regierung mehr Macht zugestehen, erlassen. Der Wille, sich den europäischen Institutionen unterzuordnen, scheint dort überschaubar zu sein.

Brantner: Herr Gauweiler, schade, dass Sie offensichtlich schlecht informiert sind. Während Orbán das eine Gesetz aufgehoben hat, wurde ein schlimmeres verabschiedet: Jetzt kann auf Grundlage eines medizinischen Zustands automatisch wieder per Dekret regiert werden und zwar mit noch weniger Kontrollmöglichkeiten und ohne, dass das Parlament dies in Zukunft noch bestätigen muss. So agiert Orbán immer: zwei Schritte vor, einen zurück und gleichzeitig zwei weitere im Schlepptau mit voran. Sie nehmen nur den einen Schritt zurück wahr und lassen sich vernebeln. Und bei der polnischen Regierung ist es ja ähnlich: Auch dort werden immer heftigere Gesetze erlassen, neuerdings macht die Regierung auch Politik gegen Schwule und Trans-Menschen.

Gauweiler: Auch wenn es Sie schmerzen mag, es können nicht alle nach den moralischen Vorstellungen der Grünen spielen. Einen demokratisch gewählten Regierungschef wie Viktor Orbán müssen Sie aushalten können, wenn Sie nicht Gefahr laufen wollen, Ihre Meinung über alles zu stellen, auch um den Preis einer neuen Spaltung in Europa.

Brantner: Und Sie wiederum wollen einfach zuschauen? Wir schulden es den Menschen in diesen Ländern, dass wir uns für ihre Rechte einsetzen. Das ist doch keine Frage davon, wie viel ich "aushalten" muss. Es geht um die Grundlage der europäischen Rechtsgemeinschaft, nämlich die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. "Demokratisch gewählt" heißt auch noch lange nicht "demokratisch". In Ungarn, das sind antidemokratische und antieuropäische Tendenzen. Wohin uns Populismus führt, kann man übrigens auch in Großbritannien sehen.

Sie meinen den Brexit. Haben den auch "konservative Kräfte" eingeleitet, Herr Gauweiler?

Gauweiler: Na und? Am Tag nach der Brexit-Entscheidung habe ich einer Ortsgruppe der Jungen Union zwei Fässer Augustiner gestiftet. Einfach, weil es mich gefreut hat.

Brantner: Sie haben sich gefreut, dass die Briten uns verlassen? Waren Sie froh, die los zu sein?

Gauweiler: Die Briten gehen der Welt ja nicht verloren, im Gegenteil. Ich begrüße jedes Ereignis, dass die angeblich unaufhaltsame Fixierung eines europäischen Zentralstaats unwahrscheinlicher macht.

Brantner: Hüten Sie sich vor Unterstellungen. Uns geht es nicht um einen europäischen Zentralstaat, sondern um eine föderale europäische Republik. Und ich war am Tag des Brexits sehr traurig, weil ich es gut fand, dass die Briten in der EU waren. Auch wenn das nicht immer einfach war. Vor allem aber sollten Sie, Herr Gauweiler, wissen, wie sehr die Debatte um den Brexit manipuliert worden ist von außen. Und angesichts der derzeitigen Situation Großbritanniens beneide ich die Briten wirklich nicht. Aber wir müssen schauen, wie wir Debatten europaweit führen.

Nämlich?

Brantner: Wir müssen mit der Überheblichkeit vorsichtig sein, die manchmal von Deutschland ausstrahlt. Dieser Anspruch, "wenn alle nur so wären wie wir, dann wäre alles gut". Das gibt es in allen Parteien, nicht nur bei Grünen und den Konservativen. Vielleicht ist diese Form von Arroganz die größte Gefahr für die Europäische Union.

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Sie spielen auf den Wiederaufbaufonds an, mit dem EU-Ländern in der Corona-Krise geholfen werden soll – weil sie "unverschuldet" in Not geraten?

Brantner: So ist es. Teilweise läuft die Debatte schräg. Wir helfen jetzt, weil wir als Deutsche urteilen, dass sie halt nichts dafür können! Wenn wir Deutsche befinden würden, dass sie selbst schuld an ihrer Lage wären, würden wir ihnen nicht helfen. Dabei helfen wir ja aus handfesten eigenen wirtschaftlichen Interessen.

Gauweiler: Deutsche Überheblichkeit macht die Probleme der EU nicht leichter. Wie sich einige – auch in der Union anmaßen, diesen Kontinent quasi im Alleingang gestalten zu wollen, ist schon erschreckend.

Gibt es einen Aspekt in der EU-Politik, den Deutschland in der EU-Ratspräsidentschaft grundlegend verändern sollte?

Gauweiler: Ja, im Bereich Militärpolitik und globale Rüstung.

Brantner: Ich stimme Herrn Gauweiler zu, auch wenn er vermutlich ein anderes Ziel im Blick hat als ich.

Herr Gauweiler, was meinen Sie?

Gauweiler: Donald Trump hat einmal gesagt, dass die Nato in dem Moment obsolet wurde, als der Warschauer Pakt zerbrach. Damit hatte er recht. Doch zwischenzeitlich ging im Welttheater eine neue Vorführung los: die Wiederentdeckung des Kriegs als Mittel der Politik – "für unsere moralischen Werte". Und Deutschland macht munter mit. Dabei ist die deutsche Bundeswehr laut Grundgesetz eine reine Verteidigungsarmee – wie sonst nur noch die Selbstverteidigungskräfte im Kaiserreich Japan. Übrigens, Frau Brantner, der Friedensgrundsatz steht doch im Gründungsbeschluss der Grünen, wenn ich mich recht entsinne?

Brantner: Das ist richtig.

Gauweiler: Aber unter Joschka Fischer wurde dafür gesorgt, dass dieser Vorsatz gekippt wurde, um Jugoslawien bombardieren zu können.

Brantner: Wenn solche Massaker geschehen wie auf dem Balkan, so viele Menschen sterben wie in Srebrenica, dann können wir das nicht ignorieren. Wir müssen militärische Einsätze immer im Einzelfall entscheiden, aber wegsehen darf man nicht. Das war damals beim Balkankrieg so und das gilt auch heute noch.

Gauweiler: Alle diese militärischen Einsätze – von Jugoslawien über Afghanistan bis in den Irak und Mali – haben sich, von der völligen Erfolglosigkeit einmal abgesehen, in einer weltweiten Flüchtlingsbewegung ohne Beispiel niedergeschlagen. Und Sie, Frau Brantner, sitzen hier – wohlgemerkt als Grüne – und befürworten EU-"Einzelfallentscheidungen" für ein Recht zum Krieg. Und jetzt kommen die ganzen Apparate-Heinis, die dafür auch noch eine neue Armee aufstellen wollen. Das ist doch glatter Wahnsinn! Auch wenn die Grünen da offenbar gern mitmachen würden.

Brantner: Herr Gauweiler, für uns Grüne gibt es zwei Lehren aus der Nazizeit: nie wieder Krieg und nie wieder Auschwitz. In diesem sensiblen Spannungsfeld bewegt sich grüne Außenpolitik. Ich bin keine Pazifistin – offenbar im Gegensatz zu Ihnen.

Gauweiler: Ich bin für Verteidigung, aber gegen den Krieg als Mittel der Politik und gegen moralisch motivierte militärische Kreuzzüge in der ganzen Welt.

Brantner: Gegen Kreuzzüge sind wir alle, aber ich bin für eine internationale Gemeinschaft, die einsteht gegen Genozid und schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie hätten es doch sicher auch begrüßt, wenn Auschwitz früher befreit worden wäre, oder? Und das war nun mal nur mit militärischen Mitteln möglich.

Gauweiler: Ich finde diese maßstabslosen Vergleiche nicht gut. Wenn Sie also Verteidigungsministerin werden, dann wird die Bundeswehr auch nach Hongkong und nach Litauen geschickt, gegen China und Russland?

Brantner: Das habe ich nicht gesagt. Für Hongkong wäre eine konsequente europäische wirtschaftliche Reaktion wichtig. Da müssen wir als Europäer besser gemeinsam vorgehen. Mit Blick auf Ihre Ursprungsfrage: wir sollten in der EU militärische Fähigkeiten zusammenschließen, um Synergien zu schaffen. Deswegen halte ich übrigens den Plan der amtierenden Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer, Kampfjets in den USA zu kaufen, für Unfug. Besser wäre ein europäisches Projekt, bei dem zumindest gemeinsame Rüstungspolitik betrieben wird. Ob und wie die Produkte dieser Rüstungspolitik dann eingesetzt werden, das steht auf einem anderen Blatt.

Gauweiler: Na, zumindest auf diesen Minimalkonsens beim Bau von Flugzeugen können wir uns einigen. Gegen grundsätzliche europäische Zusammenarbeit habe ich nichts einzuwenden.

Frau Brantner, Herr Gauweiler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Franziska Brantner und Peter Gauweiler in Berlin
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