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Jahresrückblick 2019 mit Martin Sonneborn: "Wir holen uns neue Probleme in die EU"


Jahresrückblick mit Martin Sonneborn
"Wir holen uns neue Probleme in die EU"


Aktualisiert am 31.12.2019Lesedauer: 13 Min.
Interview
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Martin Sonneborn blickt im Interview mit t-online.de auf das Jahr 2019 zurück.Vergrößern des Bildes
Martin Sonneborn blickt im Interview mit t-online.de auf das Jahr 2019 zurück. (Quelle: t-online)

Es war ein Jahr der politischen Krisen: Der Brexit, die Skandale um Donald Trump oder der Klimanotstand hielten Deutschland in Atem. Im Interview blickt Martin Sonneborn mit uns auf 2019 zurück.

Zwischen den Jahren legt die große Politik eine Pause ein. In Deutschland diskutieren dagegen Zeitungen und Online-Medien über einen Kinderchor vom Westdeutschen-Rundfunk – und sogar Politiker von Rang und Namen beteiligen sich an der hitzigen Debatte. Jemand, der wirklich etwas dazu zu sagen hat, ist einer von Deutschlands bekanntesten Satirikern. Lange Zeit war er Chefredakteur des Magazins "Titanic". Seit fünf Jahren ist Martin Sonneborn aber auch Politiker.

Er sitzt im EU-Parlament – für "Die Partei", die er gegründet hat. Während die große Politik nun also eigentlich Sendepause hat, ist er auf Heimatbesuch in Berlin. In unserem großen Jahresrückblick-Interview spricht der Europapolitiker über viele Themen, die auch ihn in diesem von Krisen getriebenen Jahr beschäftigten. Dabei geht es um Politiker wie Trump und Johnson, um die Klimakrise, den Brexit – aber auch um den Shitstorm gegen den WDR-Kinderchor.

Was Martin Sonneborn von Boris Johnson und Donald Trump hält und wem er eine Spitze verpasst, sehen Sie in der Schnellfragerunde im Video oben.

Herr Sonneborn. 2019 endet und es wird Zeit auf das Jahr zurückzublicken. Einige Ihrer Kollegen im Europaparlament stellen Ihnen dabei ein schlechtes Zeugnis aus. Hatte Ihr ehemaliger Widersacher in Brüssel, Elmar Brok, doch recht? Waren Sie vor allem "frech und faul"?

Wer ist hier faul? Ich glaube, Elmar Brocken hat in diesem Jahr die Wiederwahl ins Europaparlament verfehlt. Wir hingegen haben unsere Wählerstimmen verfünffacht: auf nun über 900.000.

Trotzdem haben Sie hohe Fehlzeiten – sagen Ihre Kritiker.

Ich bin bei 70 Prozent der Sitzungen und Abstimmung im Parlament. Für einen Politiker ist alles über 50 Prozent absolut ausreichend. Was ich tatsächlich nicht immer mitmache, ist der absurde monatliche Umzug des Parlaments von Brüssel nach Straßburg. Im Oktober wird gleich zweimal sinnlos zwischen den beiden Standorten hin und her gefahren – da weigere ich mich. Dieser Umzug kostet jedes Jahr 180 Millionen Euro und produziert 20.000 Tonnen CO2-Ausstoß.

Sie verpassen dann aber drei Abstimmungstage?

Es kann schon sein, dass an diesen Tagen mal 240 Abstimmungen pro Stunde durch das Parlament gejagt werden. Aber alleine in der letzten Legislaturperiode habe ich an rund 20.000 Abstimmungen mitgemacht – für Europa muss das reichen.

Hier kritisiert Sonneborn den WDR-Chef

2019 war auch ein wichtiges Jahr für die EU. Europa hat gewählt, mit großen Verlusten für Union und SPD. Einer, der mit dafür verantwortlich sein soll, ist der YouTuber Rezo. Haben Sie ihm schon eine Dankeskarte geschickt?

Nein, aber ich habe ihm Asyl angeboten. Er wurde nach seiner Aktion von der "Bild"-Zeitung und von CDU-Leuten heftig angefeindet. Ich habe gesagt, wenn ihm das alles zu nahe geht, soll er doch eine Zeit zu uns nach Brüssel kommen. Ich habe schließlich selbst mal eine Schmutzkampagne erlebt, in der mich die "Bild"-Leser anrufen und mir die Meinung geigen sollten: Wir haben damals die Anrufe mitgeschnitten und eine sehr lustige CD daraus gemacht.

Nach der Wahl ist eine Deutsche die erste EU-Kommissionspräsidentin geworden.

Von der Leyen wird in Deutschland ja witzigerweise als deutscher Erfolg gefeiert. Das halte ich für grundfalsch. Ich glaube eher, dass sich der französische Präsident Emmanuel Macron bei der Position durchgesetzt hat. Er hat den Posten der Europäischen Zentralbank mit Christine Lagarde besetzt, das war sein dringlichstes Anliegen. Und mit von der Leyen versteht er sich ja sehr gut – Frankreich will ja vor allem Waffen exportieren. Da passt es das ganz gut, dass nun eine ehemalige Verteidigungsministerin Kommissionschefin ist, die neben vielen fragwürdigen Beraterdeals vor allem für eines steht: Waffenexporte.

Sie haben von der Leyen mal als "völlig kenntnisfrei" und "inkompetent" bezeichnet. Es klingt, als sehen Sie das immer noch so?

Sie hat sich in der Zwischenzeit nicht so viele Kenntnisse angeeignet, dass ich das Urteil jetzt schon revidieren wollen würde. Ich glaube sogar, dass Frau von der Leyen eine Gefahr für die EU darstellt. So furchtbar wie Ex-Kommissionschef Jean-Claude Juncker mit seinen steuerpolitischen Entscheidungen in Luxemburg und seiner neoliberalen Ausrichtung in der EU gewesen ist: Er war doch jemand, der Typen wie Victor Orban kaltstellen konnte. Notfalls mit einer kleinen Ohrfeige. Das traue ich von der Leyen nicht zu. Wir wissen ja, dass sie mit Stimmen der Polen und Ungarn gewählt wurde, also durch illiberale Regierungen, und dass sie denen nun entgegenkommen muss.

Wie meinen Sie das?

Die EU ist momentan in einer noch größeren Krise als eh schon in den letzten fünf Jahren, einfach weil sich das Einstimmigkeitsprinzip als immer unzureichender erweist. Die osteuropäischen Staaten haben das Spiel seit ihrem Beitritt mitgespielt und stillgehalten. Jetzt werden sie selbstbewusster, frecher und blockieren vernünftige Entscheidungen – oder lassen sich ihre Zustimmung teuer bezahlen.

Als eine vernünftige Entscheidung könnte der "Green Deal" der EU gesehen werden – oder was stört sie am Klimaschutz?

Ich glaube nicht, dass es einen echten "Green Deal" geben wird. Ich glaube, das ist eine Etikettierung, um Wirtschaftswachstum als Umweltschutz zu verkaufen. Aber das ist die falsche Richtung, "die Partei" fordert eine Reduzierung des BIP auf sozial- und umweltverträgliche 50 Prozent. Der "Green Deal" ist Augenwischerei.

Trotzdem ist er doch besser als gar kein Klimaschutz?

Es ist nicht klimaschädlich, wenn von der Leyen Klimaschutz verkündet – zumindest nicht sehr. Aber gemessen werden muss sie daran, was sie dann auch tut. Ich kenne die Konservativen im EU-Parlament, ich beobachte die 28 Regierungschefs im Rat seit fünf Jahren. Ich glaube absolut nicht, dass es hier zu einer grünen Politikwende kommen wird.

Und das, obwohl kaum ein Thema die Menschen 2019 so bewegt und für so viel Streit gesorgt hat wie die Klimakrise. Man sieht es gerade wieder in der Debatte um den WDR-Kinderchor. Können Sie als Satiriker die Empörung verstehen?

Es ist eine völlig grundlose Empörung. Ich glaube, dass es sich bei dem, was der Kinderchor produziert hat, nicht einmal um Satire handelt – es ist einfach lustiger Quatsch. Warum sollte man so etwas nicht singen dürfen? Empörend finde ich eher, dass sich WDR-Intendant Tom Buhrow nicht schützend vor die Redaktion stellt und einen kleinen Shitstorm aushält. Er hätte erklären müssen, dass man in einer Demokratie auch einen solchen Klamauk senden darf. Dass er jetzt einknickt und sich entschuldigt, lässt nichts Gutes ahnen für die Zukunft.

Und was ist mit den wütenden Reaktionen im Netz?

Das Internet ist auf einem gefährlichen Weg. Die hysterischen Reaktionen auf den Kinderchor zeigen, wie extrem die Empörungsbereitschaft mittlerweile ist. Ich finde, die Leute sollten im Netz weniger dogmatisch, weniger cholerisch miteinander umgehen. Und die Beleidigungen sollten sie Fachleuten wie uns überlassen.

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Beim Thema Klima kommt man in diesem Jahr nicht um Greta Thunberg herum. Können Sie verstehen, warum gerade alte weiße Männer das 16-jährige Mädchen so hassen?

Nein. Andererseits haben die Leute früher auch gehasst, sie konnten diesem Hass nur keinen Ausdruck verleihen. Mein Bruder wohnt in einem kleinen österreichischen Dorf und da gibt es einen Dorfdeppen. Der lebt von Sozialhilfe und wird immer dann gerufen, wenn niedere Tätigkeiten anstehen, zum Beispiel eine Mauer eingerissen werden muss. Seitdem der einen Internetzugang hat, hat er Verbindung zu Deppen in anderen Dörfern. Und die sind sich jetzt plötzlich einig, dass es eine jüdische Weltverschwörung gibt, und dass die Juden an ihrer Situation schuld sind. Ich glaube, dass man den Dorfdeppen in Deutschland den Zugang zum Netz auf ein 56k-Modem begrenzen sollte – einfach damit das wieder alles etwas entschleunigt wird und sich die Deppen nicht zusammenrotten.

Für die einen ist Greta Hassobjekt, für andere Vorbild. Wie stehen Sie zu ihr?

Ich habe den Schülern von Fridays for Future eine Entschuldigung geschrieben – ganz offiziell auf EU-Parlamentspapier und sie für die Freitage von der Schulpflicht befreit. Das Formular kann man auf meiner Homepage herunterladen und offenbar wird das auch sehr viel gemacht. Zumindest erhalte ich sehr viel Protestmails von Schulleitern in letzter Zeit.

Und im Parlament?

Ich sehe dort seit fünf Jahren einen konservativen Block, der wirtschaftsfreundlich abstimmt, der industrie- und finanzindustrieorientiert abstimmt, gegen die wirklichen Interessen der Bürger. Und dieser große konservative Block hat auf einmal reagiert, als die Schüler auf die Straße gingen. Für mich war es das erste Mal – und ich habe ein ziemlich negatives Weltbild, seitdem ich im Parlament sitze – dass ich Hoffnung geschöpft habe. Die Kinder mit ihren Demos haben etwas bewirkt. Und auch wir, weil wir Öffentlichkeit hergestellt haben für das Abstimmungsverhalten deutscher Abgeordneter.

Wo?

Zum Beispiel beim Klimanotstand. Der wurde gegen die Stimmen von Union und AfD im Parlament verabschiedet. In Deutschland hat das viele Wähler überrascht, als wir das Abstimmungsergebnis visualisiert und ins Netz gestellt haben. Das Ergebnis zeigt übrigens auch: Es gibt in Deutschland kein Umdenken bei Konservativen, was die Klimapolitik betrifft.

Man kann alles aber auch noch schlimmer machen – so wie US-Präsident Donald Trump, der die USA gleich ganz aus dem Pariser Klimabkommen geführt hat. Er hat ein ziemlich turbulentes Jahr hinter sich, nun steht das Impeachment-Verfahren gegen ihn an. Haben Sie manchmal Mitleid mit ihm?

Absolut nicht. Er ist in einer der mächtigsten Positionen der Welt – sogar wichtiger als ich. Ich hätte niemals gedacht, dass ein Mann in diesem Amt so viel zerstören kann. Und ich ärgere mich auch, dass die Medien jede Twitter-Verlautbarung von ihm aufgreifen.

Aber wenn Trump etwas twittert, hat das sehr oft auch globale politische Folgen: Wie die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran…

Das gilt nicht, wenn es nur auf Twitter kommt!

Und doch er hat er damit konkrete Politik angekündigt. Es ist der erste Kanal, der die Menschen erreicht…

Ein Gesetz ist es dann aber noch nicht.

Trump könnte der erste Präsident sein, der durch ein Gesetz sein Amt früher als geplant wieder los wird. Oder glauben Sie, dass er das Impeachment übersteht und wiedergewählt wird?

Es scheint so, dass das Amtsenthebungsverfahren beide Seiten politisch stärkt. Ich weiß nicht, ob sich irgendwann genügend Leute finden, die bereit sind, gegen Trump zu wählen. Die erste Voraussetzung dafür wäre wohl ein echter linker Kandidat der Demokraten. Es war schließlich eine furchtbare Wahl zwischen Trump und Clinton.

Sehen Sie so eine krasse Spaltung wie in den USA auch in Europa?

Ich habe eine Zeit lang in Österreich gelebt, und damals haben wir festgestellt, dass alles, was in den USA passiert, zehn Jahre später in Deutschland und nochmal fünf Jahre später in Österreich ankommt.

Also keine guten Aussichten?

Nein. Denn die Zeiten sind schnelllebiger geworden. Eine polarisierte Gesellschaft wie in Amerika haben wir ja bereits in Europa – zum Beispiel in Großbritannien.

Dort ist nun mit Boris Johnson ein Freund Trumps neuer Premierminister – mit einer starken Mehrheit im Parlament. Der Brexit wird also kommen. Freut es Sie, die Briten nach all dem Ärger los zu sein?

Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Die Briten haben in Europa viel neoliberales Gedankengut eingebracht: Dass wir zum Beispiel das Bachelor-System haben, halte ich für einen großen Fehler. Wenn ich allerdings sehe, dass die EU damit ein Kernland verliert, und dass die osteuropäischen Staaten immer mehr Gewicht bekommen, da werden wir noch ganz andere Probleme bekommen. Es gibt Politiker, die noch mehr Oststaaten aufnehmen wollen. Dabei sind etwa Nordmazedonien und Albanien einfach nicht auf dem Stand, dass wir sie in die EU lassen sollten.

Warum?

Zum Beispiel wegen der Blutrache.

Nordmazedonien hat einen langen Namensstreit mit der griechischen Provinz Mazedonien beigelegt, um aufgenommen werden zu können. Und dafür extra den Staatsnamen geändert…

Ich glaube, dass der Name für Blutrache trotzdem gleichgeblieben ist.

Die gibt es in Nordmazedonien aber nicht…

Da können Sie recht haben, aber in Albanien. Außerdem pflegen die meisten osteuropäischen Staaten ein korruptes Gesellschaftsmodell, bei der sich die Eliten die EU-Gelder aneignen. Wir sehen das beim tschechischen und beim slowakischen Präsidenten, wir sehen das in Rumänien, in Ungarn, wo die Orban-Gefolgschaft genau das tut. Die arme Bevölkerung in diesen Ländern wird finanziell ausgetrocknet. Und genau das ist der Grund für die Spaltung von Gesellschaften…

Wo wir wieder bei Großbritannien und dem Brexit wären…

Die Jung-Wähler haben überwiegend Labour gewählt und die Letzt-Wähler überwiegend konservativ und damit Boris Johnson. Man darf nicht unterschätzen, wie viele Briten die EU ablehnen und wie sehr sie noch immer unter dem Verlust ihres Empires leiden. Gegen die hatten die Jungen keine Chance. Es zeigt, dass die Demokratie die besten Jahre hinter sich hat, wenn ein Politiker wie Boris Johnson Premierminister werden kann.

Die künftigen Beziehungen mit der Insel müssen trotzdem geklärt werden. Wie würden Sie das als EU-Politiker angehen?

Ich würde auf eine möglichst freundschaftliche Zusammenarbeit mit Großbritannien setzen. Die Frage ist allerdings erstmal, ob sich Schottland oder Wales nicht noch aus dem Königreich verabschieden. Aber mit dem Rest, den Boris Johnson dann erfolgreich dezimiert hat, werden wir hoffentlich einen pragmatischen Umgang pflegen. Allein schon, damit englische Bands weiterhin durch Europa touren können.

Sie sagen, dass die Demokratie die besten Jahre hinter sich hätte. Was wäre die Alternative?

Die Alternative sind illiberale Demokratien. In Deutschland kann man politische Entscheidungen nur schwer durchsetzen. Die Mehrheit der Deutschen ist beispielsweise für ein Tempolimit, aber die Politik ist dagegen. Das ist absurd.

Das spricht aber nicht gegen die Demokratie, sondern dafür, dass die Mehrheiten bei bestimmten politischen Themen von den Parteien inhaltlich nicht umgesetzt werden.

Die Menschen stimmen bei Wahlen gegen ihre eigenen Interessen – auch weil sie von den Medien fehlinformiert werden. Das hat man beim Brexit in Großbritannien gesehen.

Aber mit Medienschelte machen Sie es sich etwas zu einfach.

Nein. Wenn Sie sich alleine ansehen, wie die "Bild"-Zeitung beim Thema "Umweltsau" hetzt und damit auch die Gesellschaft weiter spaltet. Ich bin ein Freund von freien Medien…

Bei diesem Satz darf es eigentlich kein "aber" geben.

Aber ich habe eben darüber nachgedacht, ob man "Bild" verbieten kann. Sobald wir an der Macht sind, wird Springer enteignet. Wenn so viel Hass gesät wird, geht das weit über das erträgliche Maß hinaus.

Besonders Rechtspopulisten können aktuell in Europa mit einfachen und teilweise erdachten Antworten auf komplexe Fragen punkten. Warum sind die Nationalisten gerade im Aufwind?

Ich glaube dort, wo ein gewisser Wohlstand herrscht, lassen sich Menschen nicht so leicht aufstacheln. Die ungleiche Verteilung von Reichtum ist sowohl ein europäisches als auch ein deutsches Problem: 113 Millionen EU-Bürger leben laut Eurostat in Armut oder sind von Armut bedroht. Und die Armutsquote ist in den letzten 20 Jahren nicht niedriger geworden.

Was sollte die Politik dagegen tun?

Es gibt genug Geld, aber man muss es anders verteilen. Andere Parteien fordern ein Existenzminimum, wir fordern ein Existenzmaximum – in Höhe von einer Million Euro.

Also kontern Sie den Populismus von rechts mit Linkspopulismus?

Nein, das ist einfach sozial. Überhaupt, welche Linkspopulisten meinen Sie?

Ihre Partei.

Wir sind Populisten der extremen Mitte. In der Mitte werden bekanntlich die Wahlen gewonnen. Aber gut, man kann natürlich über die Höhe des Existenzmaximums streiten. Unsere Forderungen sind sicherlich nicht zu hundert Prozent eins zu eins zu nehmen, es sind in erster Linie plakative Denkanstöße.

Und genau das ist doch linker Populismus.

Aber wir betreiben seriösen Populismus, und das seit 15 Jahren. Deswegen ärgere ich mich, dass jetzt unseriöse Populisten wie Boris Johnson oder die AfD mit unseren Methoden reüssieren.

Das Beispiel Italien zeigt, dass auch Linkspopulismus bei Wahlen erfolgreich sein kann. Sehen Sie die Fünf-Sterne-Bewegung als Vorbild für "Die Partei"?

Die Fünf-Sterne-Bewegung hat mit Rechtspopulisten regiert und damit einen Tabubruch begangen. Aber die Italiener haben auch viel weniger Vertrauen in ihr politisches System, deshalb sind die Vorzeichen dort andere. Es wird noch ein wenig dauern, bis "die Partei" auf dem Level der Fünf-Sterne-Bewegung ist.

Demnach könnten Sie in Deutschland perspektivisch auch mit der AfD zusammenarbeiten.

Smiley! Ich glaube, wir setzen uns viel aggressiver mit der AfD auseinander als der Rest der Parteien in Deutschland.

Wie sehen diese Auseinandersetzungen konkret aus?

Nach unserer Geldverkaufsaktion wurden die Vorschriften für die Parteienfinanzierung geändert. Seit die AfD kein Gold mehr verkaufen kann, hat sie jedes Jahr 500.000 Euro weniger im Rechenschaftsbericht. Deshalb hat Frau von Strolch die Mitglieder gerade zum Spenden aufgefordert. Und Jörg Meuthen kam neulich missgelaunt im Plenarsaal zu mir und zeigte mir ein Parteiplakat, auf dem sein Kopf zu sehen war. Ein Ortsverein aus Karlsruhe hatte sich dafür entschuldigt, dass aufgrund eines Versehens auf dem Plakat nicht "Politischer Aschermittwoch" stand, sondern "Politischer Arsch am Mittwoch". Meuthen sagte mir, dass sei stillos, ich antwortete, dass seine komplette Partei wesentlich stilloser sei.

Nun haben wir über Populisten gesprochen. Donald Trump steht zum Beispiel für "America First", Boris Johnson für die Brexit-Kampagne. Stehen Sie und "die Partei" inhaltlich nur für politischen Klamauk?

Nein. "Die Partei" ist einerseits eine Wahlmöglichkeit für intelligente Protestwähler. Die Dummen wählen ja AfD, wie ich schon einmal in einem Interview mit t-online.de erklärte.

In dem Fall fühlten sich viele AfD-Wähler danach missverstanden. Aber Danke. Jetzt können wir hier noch einmal unser letztes Interview verlinken.

Gern geschehen.


Für welche Politik steht ihre Partei außerdem?

Wir begreifen uns als Korrektiv, das Öffentlichkeit herstellt für die Dinge, die in Deutschland und in der EU falsch laufen. Außerdem interessieren wir Menschen, gerade junge Menschen, für politische Zusammenhänge, für die sie sich sonst nicht interessieren würden.

Ihre Themen haben sich im Jahr 2019 aber durchaus auch etwas gewandelt. Zuletzt machten Sie auf das Schicksal der Kurden nach der türkischen Offensive in Syrien aufmerksam.

Nein, unsere Standpunkte waren immer gleich, aber die Umwelt wird furchtbarer. Der "Irre vom Bosporus" ist Nato-Mitglied und lässt mit deutschen Panzern in Syrien Menschen umbringen. Das ist eine Eskalation, auf die wir reagieren mussten. Mit einer Spendenaktion für die Kurden, die von CDU und SPD unterstützt wurde – gegen deren Willen.

Müssen die EU und Deutschland ihre Politik gegenüber dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan verändern?

Auf jeden Fall. Aber der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat mit seiner Zustimmung für Frau von der Leyen als Kommissionspräsidentin erstritten, dass Ungarn den Erweiterungskommissar stellt. Nun will Orbán dafür sorgen, dass nicht nur Albanien und Nordmazedonien in die EU aufgenommen werden, um seinen Einfluss zu stärken. Er hat auch angekündigt, die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wiederaufzunehmen. Das ist sicherlich nicht der richtige Weg.

Warum?

Weil wir uns damit neue Probleme in die EU holen. Schon die jetzigen EU-Mitglieder finden bei vielen Themen keine Einigung mehr.

Wir haben in unserem Jahresrückblick 2019 nun viel über Probleme gesprochen, die die EU und Deutschland in diesem Jahr beschäftigten. Was ist denn dagegen gut gelaufen?

Der Shitstorm gegen den WDR... Und dass wir als Partei eine gute Idee für die nächste Bundestagswahl haben.

Die wäre?

Wir möchten mit 20 Wissenschaftlern auf den vorderen Listenplätzen antreten. Wir suchen seriöse Klimaforscher, die bereit sind, sich aufstellen zu lassen und ein wenig Öffentlichkeit für ihre Forschungen zu akzeptieren. Falls wir die 5-Prozent-Hürde wider Erwarten schon bei der nächsten Wahl schaffen sollten, wäre es nicht verkehrt, ein paar engagierte Wissenschaftler in den Bundestag zu schicken. Ihr Sachverstand fehlt derzeit.

Jetzt ist die nächste Bundestagswahl wohl erst im Jahr 2021. Was macht Ihnen für 2020 Hoffnung?

Ich hoffe sehr, dass Süle wieder gesund wird und im kommenden Jahr die deutsche Abwehr wieder steht. Und dass im Schatten der Europameisterschaft nicht zu viele Gesetze unbemerkt durchgedrückt werden.

Was ist sonst noch wichtig?

Der Prozess gegen Julian Assange im März, ich fahre als Prozessbeobachter nach London. Assange ist vom amerikanischen Staat in eine lebensbedrohliche Situation manövriert worden, die den humanitären Grundsätzen in Europa auf keinen Fall gerecht wird.

Das müssen Sie genauer erklären.

Der UN-Folterbeauftragte, Nils Melzer, hat erklärt, dass das Leben von Assange in Gefahr ist, weil er seit Jahren in Isolation lebt und Symptome zeigt, die denen von Opfern schwerer Folter gleichen. Assange muss diesen Prozess erleben, und die britische Justiz urteilt dabei hoffentlich unabhängig und ohne sich der menschenverachtenden Denkweise der US-Regierung unterzuordnen. Wenn nicht, wäre das eine Bankrotterklärung für die Menschenrechte in Europa. Dann können wir die EU auch gleich dicht machen.

Vielen Dank für das Gespräch und einen guten Rutsch, Herr Sonneborn.

Vielen Dank, Ihnen auch.

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