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Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine bringt Deutschlands Politik ins Wanken


Tagesanbruch
Es gerät etwas ins Wanken

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 02.05.2022Lesedauer: 6 Min.
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Wladimir Putin absolviert wieder Propagandatermine im Kreml.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin absolviert wieder Propagandatermine im Kreml. (Quelle: Maxim Shemetov/Reuters-bilder)

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Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine stürzt Zehntausende Menschen ins Verderben und bringt die europäische Sicherheitsbalance ins Wanken. Er erschüttert aber auch die deutschen Parteien, in rasantem Tempo werden jahrelange Gewissheiten abgeräumt und Kehrtwenden vollzogen. Wer noch vor zweieinhalb Monaten hü sagte, sagt nun plötzlich hott, viele Volksvertreter sind kaum wiederzuerkennen – quer durchs politische Spektrum:

Die SPD schlingert zwischen Verunsicherung, Kommunikationspannen und Kopflosigkeit hin und her. Selbst überzeugte Pazifisten sind so beschämt vom Scheitern der als "Wandel durch Handel" verbrämten Kungelei mit dem russischen Regime, dass sie sich auf die Zunge beißen und die Aufrüstung der Ukraine abnicken. Die Scham über die Machenschaften der SPD-Lobbyisten Gerhard Schröder, Manuela Schwesig und Erwin Sellering wächst von Tag zu Tag. Immer mehr Details über die dubiosen Geschäfte rund um die Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 kommen ans Licht: Russische Spione gingen offenbar in Schwerin ein und aus, wichtige Akten sind verschwunden, die Landesregierung paktierte mit einem ehemaligen Stasi-Offizier. Dass die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern nicht schon längst zurücktreten musste, liegt wohl nur daran, dass die Kämpfe in der Ukraine alle anderen Nachrichten in den Schatten stellen. Aber es dürfte nur noch eine Frage von Wochen sein; CDU-Generalsekretär Mario Czaja machte gestern den Anfang und forderte Schwesig zum Rückzug auf. Falls sie auf Unterstützung aus dem Kanzleramt hofft, hofft sie vergebens, auch dort mag man keinen Finger für sie rühren: Das Eisen ist zu heiß.

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Einen heißen Kurs fahren derweil die Grünen. Die heimlichen Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck erfreuen sich dank Omnipräsenz in den Medien, empathischer Instagram-Videos und großem Einsatz an der Sanktionsfront toller Umfragewerte. Während sie früher Exporte von Angriffswaffen in Krisengebiete verdammten, marschieren sie bei der Aufrüstung der Ukraine heute an vorderster Front. Von ihrem Vor-vor-vor-vor-Vorgänger Joschka Fischer hat Baerbock gelernt, dass die deutsche Öffentlichkeit sogar politische 180-Grad-Wenden toleriert, wenn man diese geschickt als persönliche Läuterung inszeniert.

Trotzdem rumort es in der Partei: Es ist unklar, wer eigentlich den Kurs vorgibt. Der zum Fundi-Flügel zählende Toni Hofreiter wurde bei der Ministerpostenvergabe übergangen. Also pfeift er auf die Koalitionsdisziplin und poltert seit Ausbruch des Krieges im Kampfmodus durch die Talkshows, keilt gegen den Kanzler und verlangt mehr Schießgerät für die Ukraine. Auf Twitter darf er sich über den Applaus vieler junger Leute freuen, die zwar noch nie selbst einen heißen oder kalten Krieg erlebt, aber eine klare Moralvorstellung von Gut und Böse haben. Es dürfte nur noch eine Frage von Tagen sein, bis Hofreiter die Anschaffung eines Flugzeugträgers fordert, damit die deutsche Marine Despoten rund um den Globus eins vor den Latz knallen kann.

Auch die FDP-Bundestagsabgeordnete Marie-Agnes Strack-Zimmermann wäre gern Ministerin geworden. Sie genießt parteiübergreifend Respekt für ihre verteidigungspolitische Expertise und findet sich in der hemdsärmeligen Gesellschaft von Soldaten bestens zurecht. Da aber die SPD-Politikerin Christine Lambrecht, die erkennbar wenig von Militärischem versteht, das Ministerium bekommen hat, inszeniert sich Strack-Zimmermann in Fernsehstudios als Oberkommandierende in Reserve. Ihr zweitwichtigstes Ziel (nach Putin) ist dabei Bundeskanzler Olaf Scholz, dem sie kaum verhohlen Führungsschwäche vorwirft. So vehement führt sie ihre Angriffe, man könnte glatt vergessen, dass die Liberalen ja auch in der Regierung sitzen und deren Krisenkurs mitbestimmen. Dem Ansehen der Liberalen kommt Strack-Zimmermanns "friendly fire" jedoch nicht zugute: In den Umfragen dümpelt die FDP unter 10 Prozent herum, die Mehrheit ihrer Anhänger ist unzufrieden mit der Ampelregierung.

Die AfD wiederum hat sich endgültig als ernstzunehmende Kraft verabschiedet. In der Bundestagsfraktion zoffen sich Putin-Unterstützer mit Putin-Kritikern – kein Wunder, wenn man bedenkt, dass der lange Arm des Kremlchefs bis in die rechtsextreme Partei reicht.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums ist auch die Linkspartei damit beschäftigt, sich selbst zu zerlegen. Da fällt es kaum mehr auf, dass auch sie ein ungeklärtes Verhältnis zum russischen Regime hat.

Und die Union? In CDU und CSU leckt man sich immer noch die Wunden ob der verlorenen Bundestagswahl, im Saarland ging man ebenfalls baden, und nun wackelt auch noch NRW. Oppositionsführer Friedrich Merz versucht, seine Truppe auf einen scharfen Kontrakurs zur Bundesregierung einzuschwören; bei der gescheiterten Impfpflicht ist ihm das bereits gelungen. Und weil Olaf Scholz in Reden, Interviews und Pressekonferenzen viel dröger redet, als er es im vertraulichen Kreis tut, fällt es dem rhetorisch versierten Merz leicht, den Kanzler anzuschießen.

Sein Grundproblem jedoch bleibt: Die Union ist nach 16 Jahren Merkel so ausgezehrt, dass sie außer Norbert Röttgen keine profilierten Außen- und Sicherheitspolitiker vorzuweisen hat, die Wesentliches zur Debatte um Krieg und Frieden in Europa beizutragen hätten. Merz versucht das durch ein Feuerwerk an Schlagzeilen wettzumachen: Mal fordert er einen Bundessicherheitsrat, mal geißelt er Baerbocks "feministische Außenpolitik". Bei seiner neuesten Aktion geht er selbst ins Risiko: Merz will heute Nacht nach Kiew reisen, um dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj seiner Solidarität zu versichern (und ein paar schöne Fotos zu machen). Das Bundeskriminalamt rät dem CDU-Chef ausdrücklich von der Reise ins Kriegsgebiet ab und bittet um bessere Vorbereitung: Während des Besuchs von UN-Generalsekretär Guterres vor wenigen Tagen feuerten die Russen Raketen auf Kiew. Doch Merz will nicht verzichten, und Personenschützer vom BKA will er auch nicht. Vor der Kriegskulisse dem Kanzler vorzuwerfen, dass dieser seit Beginn des russischen Angriffs noch nicht in die Ukraine gefahren ist: Das ist für den Oppositionsführer einfach zu verlockend.

Umbruch, Abbruch, Aufbruch: Die Lage der deutschen Parteien in diesem krisengeplagten Frühjahr ist turbulent. Und eine Autorität, der die Bürger quer durch alle Milieus und politischen Lager vertrauen könnten, sucht man vergebens. Bleibt zu hoffen, dass sich aus den schrillen Debatten irgendwann eine Antwort auf die drängendsten Fragen herausschält: Welche Rolle sollen Deutschland und die EU künftig in der Welt spielen, und was sind wir bereit, dafür zu tun? Solange das nicht geklärt ist, fällt es Despoten wie Putin leicht, uns zu erschüttern.

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Besuch aus Indien

Während sein Land unter einer beispiellosen Hitzewelle ächzt, eilt Indiens Premierminister Narendra Modi heute nach Berlin: Der Kanzler hat zu den Deutsch-Indischen Regierungskonsultationen eingeladen. Eigentlich geht es bei dem Arbeitstreffen mit mehreren Ministern um den Ausbau der Partnerschaft: Sowohl Deutschland als auch Indien haben Interesse daran, eine bipolare Weltordnung unter der Fuchtel Amerikas und Chinas zu verhindern. Diesmal spielt aber natürlich der Ukraine-Krieg die zentrale Rolle.

Modi verfolgt dabei einen heiklen Kurs: Ungeachtet aller Sanktionen kauft er billiges russisches Rohöl und weigert sich, den Krieg zu verurteilen und den Kreml als Aggressor zu benennen. Indiens Rücksichtnahme gegenüber Moskau hat historische, wirtschaftliche und strategische Gründe – nicht zuletzt den, dass es die größere Bedrohung in Peking sieht.Olaf Scholz wird trotzdem versuchen, die größte Demokratie der Welt enger an Europa heranzulocken.


Gefährdete Energie

Apropos Europa: Auch in Brüssel geht es heute um den Krieg in der Ukraine. Die EU-Energieminister wollen die Versorgungslage der Mitgliedstaaten sichern. Nachdem Russland einen Gaslieferstopp für Polen und Bulgarien verkündet und obendrein gedroht hat, den Boykott auszuweiten, müssen die EU-Länder ausloten, wie sie sich gegenseitig helfen können. So wäre es denkbar, dass Bulgarien zunächst von Griechenland versorgt wird und Polen bald Gas über eine fast fertige Pipeline aus Litauen bezieht.
In jedem Fall gilt es zu verhindern, dass Putins Plan aufgeht, einen Keil in die Union zu treiben. Gut also, dass Wirtschaftsminister Robert Habeck nach seiner Corona-Entwarnung heute teilnehmen kann.


Harte Arbeit, wenig Geld

Die Arbeitsbedingungen in Kindergärten, Schulhorten und Behindertenheimen sind vielerorts mies. Heute wollen bis zu 330.000 Beschäftigte in Sozial- und Erziehungsberufen bundesweit streiken, sie fordern höhere Löhne. Wie die prekären Zustände in Heimen zu Gewalt an Menschen mit Behinderung führen, erklärt meine Kollegin Miriam Hollstein in diesem bedrückenden Text.


Was lesen?

Der Aufsatz von Jürgen Habermas zum deutschen Kurs im Ukraine-Krieg sorgt noch immer für Gesprächsstoff. Unser Kolumnist Gerhard Spörl macht dazu kluge Anmerkungen.


Die meisten Corona-Regeln enden. Ist die Pandemie zu Ende? Der Immunologe Andreas Radbruch ist sich im Interview mit meiner Kollegin Christiane Braunsdorf sicher: Wir haben die Herdenimmunität bereits erreicht.


Auf diesem Grundstein wollten die Nazis ein gewaltiges Bauwerk errichten. Worum es ging, lesen Sie auf unserem Historischen Bild.


Nach dem Hören unseres Wochenend-Podcasts stellen Leser die Frage: Was tun, um im Alter genügend Geld zu haben? Unsere Börsenexpertin Jessica Schwarzer erklärt es Ihnen.


Was amüsiert mich?

Ich wünsche Ihnen einen kreativen Tag. Am Dienstag ist ein besonderer Tag für t-online, mehr dazu morgen.

Herzliche Grüße,

Ihr

Florian Harms
Chefredakteur t-online
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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