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Wieso es keinen Rechtsruck gibt, aber die extreme Rechte trotzdem wächst


Wieso es keinen Rechtsruck gibt, aber die extreme Rechte trotzdem wächst

Ein Essay von Jonas Schaible

Aktualisiert am 15.06.2019Lesedauer: 12 Min.
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Teilnehmer einer rechtsextremen Demonstration in Chemnitz: Eine neue Konfliktlinie teilt die westlichen Gesellschaften.Vergrößern des Bildes
Teilnehmer einer rechtsextremen Demonstration in Chemnitz: Eine neue Konfliktlinie teilt die westlichen Gesellschaften. (Quelle: Jan Woitas/dpa)

Schon länger ist von einem Rechtsruck in Deutschland die Rede. Doch das stimmt nicht. Warum sind extrem rechte Parteien trotzdem so stark?

Es scheint ein Ruck durch Deutschland zu gehen. Und nicht nur durch Deutschland, nein, durch den ganzen Westen. Jedenfalls ist derzeit viel von einem Rechtsruck die Rede. Das Problem ist: Das Bild führt in die Irre, es verstellt den Blick auf das, was wirklich passiert. Wenn es im Flugzeug ruckelt, werden alle Passagiere durchgeschüttelt. Wenn man sich einen Ruck gibt, bewegt sich der ganze Körper. Rechtsruck, das klingt, als verrutsche eine ganze Gesellschaft.

Das stimmt aber nicht.
Die Wirklichkeit ist viel komplizierter.

Eine neue Konfliktlinie durchzieht die westlichen Gesellschaften. Aber woher kommt sie und was macht sie aus?

Um das zu verstehen, muss man die Fixierung auf den rechten Rand überwinden und für eine Weile dorthin schauen, wo die Welt nicht immer zorniger und brauner wird, sondern offener, bunter und grüner. Erst dann wird klar, warum Parteien wie die AfD zunehmend zu Massenparteien werden und warum in Chemnitz Tausende an der Seite von Neonazis demonstrierten.

Aber zuerst muss man in die Vergangenheit blicken.

1. Die alte Normalität

Am besten ins Jahr 1991. Die Sowjetunion zerfiel gerade, der Westen hatte den Kampf der Systeme gewonnen und Francis Fukuyama schrieb an seinem Buch über das Ende der Geschichte.

Die Gesellschaften, die diesen Sieg errungen hatten, sahen so aus:

Vergewaltigung in der Ehe war in Deutschland noch kein Straftatbestand. Der „Diercke Weltatlas“ unterteilte die Welt in drei Menschenrassen: Europide, Mongolide, Negride. Die USA hatten bis zu diesem Moment 41 Präsidenten und 61 Außenminister erlebt. Die Bundesrepublik Deutschland sechs Kanzler, ihre maßgeblichen Parteien (CDU, CSU, SPD, FDP) seit 1948 zusammen 23 Vorsitzende. Seit 1945 hatten mehr als 100 Menschen an der Spitze deutscher Landesregierungen gestanden. Unter diesen rund 250 Spitzenpolitikern war nur eine Frau, alle waren weiß, alle nach außen heterosexuell, fast alle Christen.

In dieser auf dem Papier egalitären Welt hing der Platz der Menschen ganz selbstverständlich von Geschlecht, Hautfarbe, Sexualität und Religion ab.

2. Der radikale Wandel

Diese Welt ändert sich seit wenigen Jahren schnell. Rasend schnell sogar. Wer nur auf den rechten Rand stiert, übersieht dabei leicht diesen Wandel. Doch er ist real. Er verändert die Welt, wie alle sie kannten.

In den USA klingt er so: Im Jahr 1997 übernahm die erste Frau das US-Außenministerium, 2001 der erste Schwarze, 2005 die erste schwarze Frau; 2008 kam der erste schwarze Präsident ins Amt.

In Deutschland so: Im Jahr 1993 wurde die erste Frau an die Spitze eines Bundeslandes gewählt, 2000 an die Spitze der CDU, 2001 regierte der erste offen schwule Mann ein Bundesland, 2005 übernahm die erste Frau das Kanzleramt, 2009 der erste offen schwule Mann ein Bundesministerium, 2010 wurden erstmals gleichzeitig zwei Bundesländer von Frauen regiert, 2013 saßen zum ersten Mal eine Muslima und eine offen lesbische Frau am Kabinettstisch, seit 2018 wird die SPD von einer Frau geführt.

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International so: Der Londoner Bürgermeister ist ein dunkelhäutiger Muslim, der kanadische Premierminister erklärter Feminist. Frankreichs Präsident ließ sich mit schwarzen Drag Queens fotografieren.

Im Netz so: #BlackLivesMatter, #metwo, #Oscarssowhite, #aufschrei, #metoo. In der Musik so: Der größte Popstar dieses Jahrzehnts ist die schwarze Feministin Beyoncé. In der Wirtschaft so: Nike, der größte Sportartikelhersteller der Welt, vermarktet zurzeit Colin Kaepernick als Helden einer Werbekampagne: einen schwarzen Footballer und Bürgerrechtler, den die Rechte verachtet und der keinen Vertrag mehr bekommt, weil er für die Rechte von Schwarzen demonstriert, indem er auf die Knie geht, wenn die Hymne gespielt wird.

Menschen überschätzen die Größe von Minderheiten, wie Studien zeigen. Aber selbst nüchtern betrachtet ist der Wandel extrem. Überall bricht die alte Normalität auf. Was vor zehn Jahren undenkbar war, wird selbstverständlich.

Es kann einem schwindlig werden dabei.

Man muss also festhalten: Westliche Gesellschaften rücken nicht geschlossen nach rechts. Im Gegenteil, große Teile öffnen sich in großem Tempo. Sie werden pluraler, liberaler und selbstverständlich diverser.

3. Die neue Stärke der extremen Rechten

Aber auch am rechten Rand der Gesellschaften regt sich etwas. In den USA, Italien, Österreich, Polen und Ungarn regiert die extreme Rechte schon. Die AfD könnte in manchen Bundesländern stärkste Partei werden. In Chemnitz folgten Tausende dem Ruf von Neonazis und Hooligans.

Über viele Jahre war das große Rätsel, warum in Europa nicht häufiger extrem rechte Parteien in Parlamenten saßen. Das Potential war immer da. Zwischen fünf und fünfzehn Prozent der Gesellschaften vertraten in Umfragen rechtsextreme Positionen.

Aber sie wählten nicht so, wie sie dachten.

Seit kurzem lautet das Rätsel anders: Warum bekommen extrem rechte Parteien und Kampagnen plötzlich 26 Prozent wie die österreichische FPÖ? Warum 28 Prozent wie die AfD in Sachsen? Warum 30 Prozent wie das Lega-Berlusconi-Wahlbündnis in Italien? Warum 33 Prozent wie Marine Le Pen in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl? Warum rund 50 Prozent, wie Donald Trump und Norbert Hofer in Österreich? Warum stimmten die Briten mehrheitlich für den Brexit?

4. Die falschen Erklärungen

Es liegt nicht an den Einstellungen der Menschen. Natürlich misstrauen viele Europäer der Politik. Viele mögen keine Flüchtlinge. Aber die Mitte-Studien der Universität Leipzig belegen: 2016 hatten so wenig Menschen ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild wie in 14 Jahren nicht. Ausländerfeindlichkeit hat abgenommen. Sogar das Vertrauen ins System ist gewachsen, auch wenn der gegenteilige Eindruck vorherrscht. Die Eurobarometer-Umfragen der EU-Kommission zeigen: In Deutschland ist das Vertrauen in Regierung, Parlament, Justiz und Medien seit 2015 gestiegen. Das Reservoir an überzeugten Rechtsextremen ist kleiner geworden, nicht größer. Die Stimmen für extrem rechte Parteien nehmen trotzdem zu, weit über ihr eigentliches Milieu hinaus.

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Es liegt nicht an der Wirtschaftskrise. Die extreme Rechte ist fast nirgends der Anwalt der Armen und Abgehängten. In Österreich zertrümmert die Regierung eine sozialpolitische Errungenschaft nach der nächsten. Der FPÖ schadet es nicht. Die extreme Rechte blieb gerade in den von der Wirtschaftskrise hart getroffenen Staaten Spanien, Portugal und Irland irrelevant. Über Trumps Wähler erzählt man bis heute, sie seien ökonomisch abgehängt, obwohl das zahllose Studien widerlegt haben. Die Wähler der AfD sind ebenfalls nicht arm. Auch dazu gibt es zahlreiche Studien. Der Aufschwung der Rechten, it’s just not the economy, stupid.

Es liegt schließlich auch nicht allein am Flüchtlingsjahr 2015 – auch wenn es eine Rolle spielt, weil es den gesellschaftlichen Wandel beschleunigt und die Debatte beherrscht. Doch in Österreich, den Niederlanden, Frankreich, Polen, Ungarn, der Schweiz, Dänemark, Finnland oder Schweden hatte der Aufstieg extrem rechter Parteien schon deutlich vorher begonnen. In den USA gab es ohnehin kein Flüchtlingsjahr 2015.

Nein, so einfach lassen sich die neuen Erfolge der extremen Rechten nicht erklären.

5. Die neue Konfliktlinie

Nur, wie dann? Woher kommen die Wähler, die extrem rechten Parteien Erfolge und damit Geld und damit Aufmerksamkeit und damit Einfluss bringen, dann? Was treibt sie an?

Vieles spricht dafür, dass es die Ablehnung des schwindelerregenden Wandels der gesellschaftlichen Normalität ist. Mit dieser Pluralisierung vollzieht die Wirklichkeit nach, was schon in der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 behauptet wurde: dass alle Menschen gleiche Rechte haben sollen, weil sie gleich geschaffen sind. Und die Welt wandelt sich dadurch für sehr viele Menschen zum Besseren.

Aber eben nicht für alle.

Für viele gerät die Welt, die sie kannten, in Gefahr. Was selbstverständlich war, wird strittig. Und noch viel dramatischer: Ihr angestammter Platz in der Welt wird plötzlich anrüchig. Ihre Normalität wird zum Problem.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel wuchsen nämlich auch die Ansprüche der Minderheiten auf Teilhabe und einen respektvollen Umgang. In der alten Welt konnte man Frauen auf den Hintern klapsen oder alle Staatssekretärsposten mit Männern besetzen, man musste sich dafür nicht rechtfertigen. Man musste auch nicht darüber nachdenken, wie das eigene Leben den globalen Süden beeinflusst. Jetzt ist das immer häufiger anders. Minister heißen jetzt Minister_innen. Süßigkeiten und Schnitzel werden umbenannt, weil sie mit rassistischen Begriffen beschrieben werden; Straßen werden umgewidmet, weil sie Kolonialschlächter ehren. Selbst in Massenmedien ist vom “alten weißen Mann” die Rede.

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Aus der Welt, in der es normal war, unbewusst Privilegien zu genießen, weil man weiß, heterosexuell oder männlich war oder aus dem Westen kam, ist eine geworden, in der man zunehmend mit der Frage konfrontiert wird, ob das so gerecht ist. Das heißt dann: “Check your privilege!”. Mach dir mal klar, welche Privilegien du hast! Und arbeite daran, anderen nicht im Weg zu stehen.

Und hier formt sich nun eine neue gesellschaftliche Konfliktlinie. Ein Bruch, der alte Identitäten nicht ablöst, der die Trennung zwischen Rechts und Links, der alte Konfliktlinien wie die zwischen Kapital und Arbeit nicht abschafft. Aber ein Bruch, der ergänzend die politischen Positionen neu ordnet.

Auf der einen Seite sammeln sich die, die finden, dass sie die Zumutungen annehmen sollten: Viele Linke, noch mehr Grüne und auch erstaunlich viele Kirchenleute, die in ihrer Ablehnung der extremen Rechten zuletzt bemerkenswert offen waren. Sie schockt der Gedanke nicht, unverdiente Privilegien zu genießen, zulasten anderer. Grüne sind an den ökologischen Sündenfall gewöhnt, Kirchen an die Ursünde.

Es ist deshalb kein Zufall, dass die Kirche zum Ziel von rechten Schmähungen werden. Es ist auch kein Zufall, dass grüne Parteien derzeit so gut dastehen. In Österreich ist ein Grüner Präsident, in Deutschland steigen die Umfragewerte, in den Niederlanden gewannen die Grünen stark dazu. In Deutschland droht der Streit über Flüchtlingspolitik fast alle Parteien zu zerreißen, die Union, die FDP, die SPD und die Linke. Nur die Grünen nicht.

Und auch nicht die AfD. Auf ihrer Seite sammeln sich jene, die in den Zumutungen vor allem den Angriff auf ihre Normalität sehen. Die Konsequenzen nicht auf sich persönlich zurückführen wollen: Sprache nicht zu gendern, hat Konsequenzen, weil es Frauen unsichtbar macht. Mesut Özil für die schlechte WM zu beschimpfen, Thomas Müller aber nicht, hat Konsequenzen für das Leben von Deutschtürken im Land. Fleisch zu essen hat Konsequenzen für Tiere und das Klima. Sich damit zu befassen, ist unbequem.

Heinz Buschkowsky, der frühere SPD-Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, hat diese Position kürzlich auf den Punkt formuliert. In seiner „Bild“-Kolumne fragte er: „Bin ich ein Klima-Killer, wenn ich Fleisch grille?“. Da notierte er, der sich als "Normalmensch" beschreibt: "Ich gehöre zu den Bösen, denn mir macht Grillen Spaß. Und nun wird mir eingeredet, dass ich damit schuld am Klimawandel bin." Nach "Erklär-Demokratie und Belehr-Rechtsstaat" komme jetzt der "Moral-Imperialismus" als "Veggie-Jünger" ums Eck.

Damit gibt er die zentrale Idee der zweiten Seite der Konfliktlinie wieder: Ich bin nicht privilegiert, denn ich bin normal. Und normal kann so schlecht nicht sein. Schuld an irgendetwas bin ich schon gar nicht.

Es gibt noch keine Begriffe, um diese Konfliktlinie und die neuen Lager zu beschreiben. Man könnte sie Pluralitäre gegen Normalitäre nennen.

6. Die neue rechte Allianz

Natürlich sind die allermeisten Normalitären keine Rechtsextremen. Doch es gibt nicht nur ihre hedonistische, sondern auch eine extremistische Ausprägung des Normalitarismus. Die deutet gesellschaftlichen Wandel aggressiv als Krieg gegen Männer, als “Kulturmarxismus”, als “Bevölkerungsaustausch” durch Flüchtlinge, "Umvolkung" oder „Rassenkrieg“ oder gleich als “Genozid an Weißen”.

Nach und nach erodiert die Grenze zwischen beiden Ausformungen des Normalitarismus. Sie nähern sich einander an, vor allem über die Ablehnung von “Politischer Korrektheit”. Die massiven Fragen, die der gesellschaftliche Wandel an das eigene Leben stellt, werden dabei zu anmaßenden Sprachregelungen einer kleinen Gruppe linker Eliten erklärt.

Unter demokratischen Konservativen sind Vorwürfe an die Grünen üblich, sie seien eine “Verbotspartei”, sie wollten bevormunden und sie fühlten sich im Besitz einer höheren Moral. Markus Söder sagte im Sommer, Deutschland sei eine “Belehrungsdemokratie”. Auch bürgerliche Kolumnisten schreiben so. An solche Vorwürfe docken Scharnierpublizisten wie Thilo Sarrazin, Scharniermedien wie Tichys Einblick, Scharnierpolitiker wie Erika Steinbach an. So verbinden sich in einer zentralen Frage Normalitäre mit der extremen Rechten.

Auch die macht ja nicht nur Flüchtlinge und den Islam verächtlich. Sie richtet sich vor allem auch gegen Menschen, die als Reaktion auf die neue Normalität für Selbstbeschränkung werben: Die extreme Rechte nennt sie "Hypermoralisten", "Gutmenschen" oder "Social Justice Warriors", also Krieger für soziale Gerechtigkeit. Sie richtet sich gegen Geschlechterforschung, die sie "Genderwahn" oder "Gender-Gaga" nennt. Sie richtet sich gegen Änderungen der Sprache, die sie als Sprechverbote oder Zensur verleumdet.

Sie muss nur diese Signalwörter sagen, dann ruft sie die neue Konfliktlinie auf – und sichert sich Unterstützung von Menschen, die mit ihr sonst nicht unbedingt übereinstimmen.

Je schwindelerregender der Wandel und je größer der Rechtfertigungsdruck auf die alte Normalität, desto einflussreicher wird die neue Konfliktlinie. Desto eher überlagert sie andere Konfliktlinien. Desto eher formt sie Identität. Desto eher fühlen sich Menschen verbunden mit allen, die auf ihrer Seite stehen. Selbst wenn sie einst viel getrennt hat. Grüne verteidigen plötzlich Angela Merkel, demokratische Konservative die AfD. Um rechts gegen links geht es dabei nicht.

7. Die gelösten Rätsel

Vieles spricht dafür, dass es diese neue Konfliktlinie ist, die der extremen Rechten neue Wähler zutreibt.

Diese Analyse macht verständlich, warum der Aufschwung der extremen Rechten in den Neunzigern begann und in den vergangenen Jahren beschleunigte.

Warum er zeitgleich in so vielen unterschiedlichen Ländern auftritt und warum extrem rechte Parteien auch in konsolidierten Demokratien gewinnen.

Warum die extreme Rechte nicht nur Wähler von rechten Parteien anzieht, sondern auch von linken – aber kaum von Grünen.

Warum verlässlich Weiße und Männer besonders oft diese extreme Rechte wählen, aber auch Menschen auf dem Land, wo Tradition und hergebrachte Normalität eine größere Rolle spielen als in der Stadt. Warum aber ökonomische Krisen und die Wirtschaftspolitik der Parteien keine große Rolle spielen.

Warum eine Studie nebenbei ergeben hat, dass AfD-Wähler mehr Fleisch essen. Warum fast alle, die Feminismus, Multikulturalismus, Umweltschutz oder Einwanderung für ein Übel halten, für den Brexit waren; und fast alle, die diese Phänomene für gut halten, dagegen.

Warum die extreme Rechte so um die Vergangenheit kreist (“Make America Great Again”, “Man darf ja nicht mehr sagen”), um so genannte politische Korrektheit und um angebliche Hypermoral.

Es gibt historische Beispiele dafür, dass gefestigte demokratische Ordnungen erschüttert werden, weil Minderheiten auf Gleichheit drängen und sich die Privilegierten dagegen wehren. Die USA wurden dadurch zweimal radikal verändert.

In den USA bildete sich nach dem Unabhängigkeitskrieg schnell ein demokratischer Konsens. Die Verfassung wurde anerkannt, Parteien wechselten sich an der Regierung ab und akzeptierten ihre Niederlagen. Aber es war ein Konsens der weißen Protestanten. Als die Südstaaten fürchteten, die Sklaverei könnte abgeschafft werden, kündigten sie ihn auf. Sie verließen die Union, da war sie etwa so alt wie die Bundesrepublik heute. Der amerikanische Bürgerkrieg kostete etwa eine halbe Million Menschen das Leben.

Danach stabilisierte sich die Ordnung schnell wieder, aber erneut unter Ausschluss der Schwarzen – bis die immer entschlossener gleiche Rechte forderten. Die Demokraten, bis in die 1960er eine Partei der Weißen, wandelten sich in kurzer Zeit zur Partei der Bürgerrechtsbewegung. Schwarze und Latinos wählten von da an demokratisch. Die Südstaaten wurden republikanisch. Die politische Landschaft nahm die Gestalt an, die sie heute hat.

8. Die neuen Erkenntnisse

Wenn diese Analyse zutrifft, was bedeutet das? Acht Schlussfolgerungen:

1. Dass rechtsextreme Positionen nicht wirklich zunehmen, heißt auch: Sorge ist sinnvoll, Panik unnötig, mehr Gelassenheit möglich.

2. Gefahr droht trotzdem. Es geht kein Ruck durch die Gesellschaft, aber der rechte Rand wird mutiger. Ein Teil der Mitte solidarisiert sich. So war es in Chemnitz. Solange die extreme Rechte in den Parlamenten wichtiger wird und die Debatten beeinflusst, wird das so bleiben. Widerstand bleibt nötig, gerade auf der Straße.

3. Die Selbstbezichtigung der Linken, man habe die extreme Rechte durch das Reden über Transgender-Toiletten stark gemacht, führt in die Irre. Emanzipation ist kein linkes Elitenprojekt. Frauen, Schwarze, Queere, Muslime, die als Minderheiten galten, obwohl sie zusammen die große Mehrheit sind, sprechen selbst, weil sie wollen. Und jedes Recht dazu haben. Dass sie einfach nur sichtbar sind, Jobs bekommen und Macht erhalten, löst bereits Gegenreaktionen aus.

4. Die Ursache für den Aufschwung der extremen Rechten ist kein Politikfehler, sondern ein Großtrend. Er wird deshalb nicht durch einzelne Gegenmaßnahmen zu stoppen sein. Nicht durch mehr Busse auf dem Land, auch nicht dadurch, dass Politik existierende Probleme mit Flüchtlingen löst. Man kann der extremen Rechten deshalb keine Themen wegnehmen.

5. Die Sorgen der Normalitären demonstrativ ernst zu nehmen, führt nicht weit, weil eine demokratische Partei sie nicht in Politik verwandeln kann. Sie kann Frauen, Schwule, Muslime oder Schwarze nicht kleinhalten. Die alte Normalität war im Kern einfach nicht demokratisch: Wahrscheinlich sind deshalb alle großen Parteien auf der normalitären Seite der neuen Konfliktlinie autoritär. Und wahrscheinlich gelingt es deshalb seit Jahren keiner konservativen Partei, sich dort zu positionieren, ohne dem Ressentiment anheim zu fallen.

6. Weil sich nicht beide Seiten der neuen Konfliktlinie problemlos demokratisch besetzen lassen, bleibt nur, ihre Bedeutung zu schwächen. Damit sich Zugehörigkeit zu Lagern nicht mehr vor allem an ihr ausrichtet. Dabei wird man an Grenzen stoßen, denn der Wandel ist real, nicht nur kommunikativ. Doch eine Verschiebung sollte möglich sein. Heißt: Mehr über anderes reden. Und die Hürden für eine Annäherung an die extreme Rechte durch Ausgrenzung erhöhen.

7. Alles deutet darauf hin, dass die extreme Rechte eine Minderheit bleiben wird, wenn auch eine relevante. Wirklichen politischen Einfluss kann sie nur erobern, wenn andere Parteien ihre Politik umsetzen, ihre Sprache übernehmen oder mit ihr koalieren. Die können das aber auch verweigern. Eine Schlüsselrolle kommt den Konservativen zu. Sie können, nein, sie müssen die Hüter der demokratischen Ordnung sein.

8. Wenn das misslingt, wenn die autoritäre extreme Rechte doch an die Macht kommt, zerstört sie die Demokratie. In Ungarn, Polen, auch Österreich und den USA ist das zu beobachten. Dann kann sie wirklich die ganze Gesellschaft verrücken. Ohne vorherigen Rechtsruck.

Dieser Artikel erschien erstmals am 30. September 2018 auf t-online.de.

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